Schlaflos

DIe Europäische Realität - was passiert nach den Pushbacks?

Myriam, ein kleines Mädchen zeigt extreme Symptome einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung - und Europa verweigert ihr die fundamentalsten Rechte

Indem wir in erster Linie über Pushbacks berichten, fokussieren wir uns hauptsächlich auf die direkte Grenzgewalt, mit der Menschen an den europäischen Außengrenzen konfrontiert sind und die europäische Politik der Abschottung und Kriminalisierung von Migration. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch für diejenigen, die Pushbacks überleben oder umgehen und tatsächlich in einem europäischen Land Asyl beantragen, die Odyssee längst nicht vorbei ist. Viele Menschen auf der Flucht haben den Glauben an ein Europa der Menschenrechte noch nicht verloren, selbst wenn sie zahlreiche Pushbacks erlebt haben. SIe haben die Hoffnung, dies sei “nicht das wirkliche Europa”, wenn sie erst in Griechenland, Deutschland oder Schweden ankommen, würden ihre Rechte sicherlich beachtet und ihr Leid gesehen.


Gravierenderweise ist die europäische Abschottungspolitik jedoch deutlich perfider und durchdringt mittlerweile sämtliche Bereiche. Von offensichtlichen Missständen wie jahrelangem Warten auf Entscheidungen im Asylverfahren, über zunehmende Ablehnung dieser Asylanträge trotz eindeutig vorliegender Gründe, angedrohte und tatsächlich stattfindende Abschiebungen in Kriegsgebiete wie Afghanistan und Kongo, rassistische Verhalten von Behörden, erschwerter Zugang zum Gesundheitssystem und damit zu medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung über fehlende Arbeitserlaubnisse und damit fehlende finanzielle Sicherheit - Geflüchtete Menschen in Europa werden auf jede nur erdenkliche Weisen durch staatliche Prozesse diskriminiert, ausgegrenzt und an dem Aufbau einer menschenwürdigen Lebensgrundlage gehindert.


Einige dieser Menschen und ihre individuellen Geschichten möchten wir im Rahmen unser Sleepless-Mind-Serie vorstellen, abwechselnd mit den bisherigen Berichten über Menschen, die Pushbacks erleben mussten.


Passend zum Internationalen Kindertag am 1. Juni erzählen wir diesen Monat die Geschichte eines achtjährigen syrischen Mädchens. Es ist erschreckend sich vorzustellen, wie ein Europa, das regelmäßig sogar die grundlegendsten Rechte von Kindern missachtet, dann mit Erwachsenen umgeht …

Ich habe Myriam auf Lesbos kennengelernt, wo sie eine Patientin in meiner psychotherapeutischen Kindergruppe war. Myriam lebte bis 2018 mit ihrer Familie in Syrien, gemeinsam mit ihren zwei jüngeren Schwestern, ihrem älteren Bruder und ihren Eltern. Seit Jahren mussten sie ständig umziehen und innerhalb Syriens fliehen, ihr Haus war am Anfang des Krieges zerbombt worden. Sie lebten in Ruinenhäusern, bis diese ebenfalls zerstört wurden und sie eine neue Bleibe finden mussten. Myriam war, so beschreibt ihre Mutter sie später, ein extrem freundliches, aufgewecktes Mädchen, albern, neugierig und verspielt. Bis zu dem Tag, an dem erneut eine Bombe ihr Haus zerstörte und ihr Bruder Yussif vor ihren Augen auf qualvollste Weise starb. Seitdem hat Myriam aufgehört zu sprechen. Die Eltern entschieden, dass sie nicht länger in Syrien bleiben konnten und sie trotz der drohenden Gefahren die Flucht nach Europa versuchen mussten, damit Myriam und ihre Schwestern vielleicht überleben könnten und Myriam vielleicht psychologische Hilfe bekommen könnte. Über die Flucht aus Syrien hat ihre Mutter mir nichts erzählt, aber bei dem Versuch von Izmir auf eine der griechischen Inseln über zu setzen, erlebte die Familie einen Schiffbruch mit mehreren Toten. Schließlich wurden sie von der türkischen Küstenwache gerettet und zurück in die Türkei gebracht. Seitdem schläft Myriam nachts kaum noch, nässt ein und schreit in ihren Albträumen.


Die Familie sah keinen anderen Ausweg, als erneut zu versuchen, irgendwie nach Griechenland zu kommen. Diesmal landeten sie mit dem Schlauchboot am Strand von Lesbos und wurden nach Moria gebracht, das Camp welches im September 2020 abbrannte. Damals jedoch lebte die Familie für ein Jahr in Moria, in einem selbstgebauten Zelt. Nachts wachte Myriam oft auf und lief aus dem Zelt. Die Eltern teilten sich auf, die Mutter wurde die Hauptbezugsperson für Myriam, der Vater kümmerte sich um die mittlerweile drei kleinen Schwestern. Durch den Einsatz einer NGO wurden sie endlich priorisiert für den Umzug nach Kara Tepe, dem “besseren Camp” auf Lesbos, in welchem sie zumindest in einem Container leben konnten. Dort war die Tür abschließbar, sodass Myriam nachts nicht mehr weglaufen konnte. Stattdessen fing sie an, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.


Zwei Jahre später lernte ich sie kennen. Ihre Mutter kam mit ihr zum Vorgespräch für die Gruppe und ich war zutiefst berührt. Noch nie habe ich so dramatisches psychisches Leid gesehen. Myriam spricht nicht, spielt nicht, lächelt nicht. Sie läuft neben ihrer Mutter her, wenn diese sie an der Hand führt, setzt sich, wenn ihre Mutter sie auf einen Stuhl drückt und starrt ansonsten mit schreckensgeweiteten Augen nach oben. Sie reagiert nicht auf Ansprachen, sucht keinen Blickkontakt oder sonstige Interaktion mit ihrer Umwelt. Ihre Mutter berichtete, dass sie noch immer einnässe, schreiend von Albträumen aufwache, sich selbst schlage und auch ihre kleinen Schwestern schlage, wenn diese versuchen würden, sie zum Spielen aufzufordern. Sie esse nur, wenn die Mutter sie füttere und verbringe den ganzen Tag damit, irgendwo zu sitzen und die Wand anzustarren. Zwischendurch fängt sie an zu schluchzen, steht auf und versucht wegzulaufen. Insbesondere bei lauten Geräuschen oder plötzlichen Bewegungen zuckt sie zusammen oder weine. Manchmal rede sie mit sich selber, wobei die Eltern das Gesagte nicht verstehen könnten.


Myriam ist offensichtlich extrem traumatisiert. Um überhaupt Heilungschancen zu haben, müsste sie in einer sicheren, für sie verständlichen Umgebung leben, behütet und geschützt, mit Zugang zu qualifizierter therapeutischer Behandlung für sie und ihre Eltern, um langsam wieder Vertrauen in das Leben fassen zu können und ihre Erlebnisse verarbeiten zu können. Stattdessen lebt sie seit mehr als zwei Jahren in einem Camp, erlebt jeden Tag aufs neue Gewalt in ihrer Umgebung, erlebt die Unsicherheit und Belastung der Eltern, hat keinen Zugang zu Bildung oder sonstigen kindgerechten Angeboten.


Aufgrund des Türkei-Deals zwischen Europa und der Türkei, der 2016 in Kraft getreten ist, können Syrer*innen von den griechischen Inseln einfach in die Türkei abgeschoben werden. In ihrem Asyl-Interview dürfen sie nicht über die Gründe für ihre Flucht aus Syrien sprechen, sondern werden nur zu der Zeit in der Türkei befragt. Kaum ein*e syrische Asylbewerber*in bekommt einen Schutzstatus auf den griechischen Inseln, fast alle werden abgelehnt und sehen sich mit einer drohenden Abschiebung in die Türkei konfrontiert. Auch Myriams Familie hat in erster Instanz eine Ablehnung erhalten, sie warten auf die Revisionsentscheidung. Der Bruder von Myriams Mutter lebt in Deutschland und hat eine Familienzusammenführung beantragt. Doch die deutschen Behörden lehnten diesen ab, da es keinen ersichtlichen Grund gebe, warum die Beziehung zwischen Bruder und Schwester besonders relevant sei.


Im April 2021 wurde das Camp “Kara Tepe” durch die griechische Regierung geschlossen und alle Menschen, die aufgrund ihrer extremen Vulnerabilität dort untergebracht worden waren, wurden in das Elendslager Moria 2 gebracht, welches nach dem Brand von Moria 2020 auf einem bleiverseuchtem Militärgelände neu aufgebaut worden war. Jetzt lebt Myriam und ihre Familie wieder in einem Zelt, direkt am Meer. Die Mutter bindet ihre Hände nachts mit Myriams zusammen, aus Angst, dass das Mädchen nachts aus dem Zelt und ins Meer läuft.


Indem wir in erster Linie über Pushbacks berichten, fokussieren wir uns hauptsächlich auf die direkte Grenzgewalt, mit der Menschen an den europäischen Außengrenzen konfrontiert sind und die europäische Politik der Abschottung und Kriminalisierung von Migration. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch für diejenigen, die Pushbacks überleben oder umgehen und tatsächlich in einem europäischen Land Asyl beantragen, die Odyssee längst nicht vorbei ist. Viele Menschen auf der Flucht haben den Glauben an ein Europa der Menschenrechte noch nicht verloren, selbst wenn sie zahlreiche Pushbacks erlebt haben. SIe haben die Hoffnung, dies sei “nicht das wirkliche Europa”, wenn sie erst in Griechenland, Deutschland oder Schweden ankommen, würden ihre Rechte sicherlich beachtet und ihr Leid gesehen.


Gravierenderweise ist die europäische Abschottungspolitik jedoch deutlich perfider und durchdringt mittlerweile sämtliche Bereiche. Von offensichtlichen Missständen wie jahrelangem Warten auf Entscheidungen im Asylverfahren, über zunehmende Ablehnung dieser Asylanträge trotz eindeutig vorliegender Gründe, angedrohte und tatsächlich stattfindende Abschiebungen in Kriegsgebiete wie Afghanistan und Kongo, rassistische Verhalten von Behörden, erschwerter Zugang zum Gesundheitssystem und damit zu medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung über fehlende Arbeitserlaubnisse und damit fehlende finanzielle Sicherheit - Geflüchtete Menschen in Europa werden auf jede nur erdenkliche Weisen durch staatliche Prozesse diskriminiert, ausgegrenzt und an dem Aufbau einer menschenwürdigen Lebensgrundlage gehindert.


Einige dieser Menschen und ihre individuellen Geschichten möchten wir im Rahmen unser Sleepless-Mind-Serie vorstellen, abwechselnd mit den bisherigen Berichten über Menschen, die Pushbacks erleben mussten.


Passend zum Internationalen Kindertag am 1. Juni erzählen wir diesen Monat die Geschichte eines achtjährigen syrischen Mädchens. Es ist erschreckend sich vorzustellen, wie ein Europa, das regelmäßig sogar die grundlegendsten Rechte von Kindern missachtet, dann mit Erwachsenen umgeht …

Ich habe Myriam auf Lesbos kennengelernt, wo sie eine Patientin in meiner psychotherapeutischen Kindergruppe war. Myriam lebte bis 2018 mit ihrer Familie in Syrien, gemeinsam mit ihren zwei jüngeren Schwestern, ihrem älteren Bruder und ihren Eltern. Seit Jahren mussten sie ständig umziehen und innerhalb Syriens fliehen, ihr Haus war am Anfang des Krieges zerbombt worden. Sie lebten in Ruinenhäusern, bis diese ebenfalls zerstört wurden und sie eine neue Bleibe finden mussten. Myriam war, so beschreibt ihre Mutter sie später, ein extrem freundliches, aufgewecktes Mädchen, albern, neugierig und verspielt. Bis zu dem Tag, an dem erneut eine Bombe ihr Haus zerstörte und ihr Bruder Yussif vor ihren Augen auf qualvollste Weise starb. Seitdem hat Myriam aufgehört zu sprechen. Die Eltern entschieden, dass sie nicht länger in Syrien bleiben konnten und sie trotz der drohenden Gefahren die Flucht nach Europa versuchen mussten, damit Myriam und ihre Schwestern vielleicht überleben könnten und Myriam vielleicht psychologische Hilfe bekommen könnte. Über die Flucht aus Syrien hat ihre Mutter mir nichts erzählt, aber bei dem Versuch von Izmir auf eine der griechischen Inseln über zu setzen, erlebte die Familie einen Schiffbruch mit mehreren Toten. Schließlich wurden sie von der türkischen Küstenwache gerettet und zurück in die Türkei gebracht. Seitdem schläft Myriam nachts kaum noch, nässt ein und schreit in ihren Albträumen.


Die Familie sah keinen anderen Ausweg, als erneut zu versuchen, irgendwie nach Griechenland zu kommen. Diesmal landeten sie mit dem Schlauchboot am Strand von Lesbos und wurden nach Moria gebracht, das Camp welches im September 2020 abbrannte. Damals jedoch lebte die Familie für ein Jahr in Moria, in einem selbstgebauten Zelt. Nachts wachte Myriam oft auf und lief aus dem Zelt. Die Eltern teilten sich auf, die Mutter wurde die Hauptbezugsperson für Myriam, der Vater kümmerte sich um die mittlerweile drei kleinen Schwestern. Durch den Einsatz einer NGO wurden sie endlich priorisiert für den Umzug nach Kara Tepe, dem “besseren Camp” auf Lesbos, in welchem sie zumindest in einem Container leben konnten. Dort war die Tür abschließbar, sodass Myriam nachts nicht mehr weglaufen konnte. Stattdessen fing sie an, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.


Zwei Jahre später lernte ich sie kennen. Ihre Mutter kam mit ihr zum Vorgespräch für die Gruppe und ich war zutiefst berührt. Noch nie habe ich so dramatisches psychisches Leid gesehen. Myriam spricht nicht, spielt nicht, lächelt nicht. Sie läuft neben ihrer Mutter her, wenn diese sie an der Hand führt, setzt sich, wenn ihre Mutter sie auf einen Stuhl drückt und starrt ansonsten mit schreckensgeweiteten Augen nach oben. Sie reagiert nicht auf Ansprachen, sucht keinen Blickkontakt oder sonstige Interaktion mit ihrer Umwelt. Ihre Mutter berichtete, dass sie noch immer einnässe, schreiend von Albträumen aufwache, sich selbst schlage und auch ihre kleinen Schwestern schlage, wenn diese versuchen würden, sie zum Spielen aufzufordern. Sie esse nur, wenn die Mutter sie füttere und verbringe den ganzen Tag damit, irgendwo zu sitzen und die Wand anzustarren. Zwischendurch fängt sie an zu schluchzen, steht auf und versucht wegzulaufen. Insbesondere bei lauten Geräuschen oder plötzlichen Bewegungen zuckt sie zusammen oder weine. Manchmal rede sie mit sich selber, wobei die Eltern das Gesagte nicht verstehen könnten.


Myriam ist offensichtlich extrem traumatisiert. Um überhaupt Heilungschancen zu haben, müsste sie in einer sicheren, für sie verständlichen Umgebung leben, behütet und geschützt, mit Zugang zu qualifizierter therapeutischer Behandlung für sie und ihre Eltern, um langsam wieder Vertrauen in das Leben fassen zu können und ihre Erlebnisse verarbeiten zu können. Stattdessen lebt sie seit mehr als zwei Jahren in einem Camp, erlebt jeden Tag aufs neue Gewalt in ihrer Umgebung, erlebt die Unsicherheit und Belastung der Eltern, hat keinen Zugang zu Bildung oder sonstigen kindgerechten Angeboten.


Aufgrund des Türkei-Deals zwischen Europa und der Türkei, der 2016 in Kraft getreten ist, können Syrer*innen von den griechischen Inseln einfach in die Türkei abgeschoben werden. In ihrem Asyl-Interview dürfen sie nicht über die Gründe für ihre Flucht aus Syrien sprechen, sondern werden nur zu der Zeit in der Türkei befragt. Kaum ein*e syrische Asylbewerber*in bekommt einen Schutzstatus auf den griechischen Inseln, fast alle werden abgelehnt und sehen sich mit einer drohenden Abschiebung in die Türkei konfrontiert. Auch Myriams Familie hat in erster Instanz eine Ablehnung erhalten, sie warten auf die Revisionsentscheidung. Der Bruder von Myriams Mutter lebt in Deutschland und hat eine Familienzusammenführung beantragt. Doch die deutschen Behörden lehnten diesen ab, da es keinen ersichtlichen Grund gebe, warum die Beziehung zwischen Bruder und Schwester besonders relevant sei.


Im April 2021 wurde das Camp “Kara Tepe” durch die griechische Regierung geschlossen und alle Menschen, die aufgrund ihrer extremen Vulnerabilität dort untergebracht worden waren, wurden in das Elendslager Moria 2 gebracht, welches nach dem Brand von Moria 2020 auf einem bleiverseuchtem Militärgelände neu aufgebaut worden war. Jetzt lebt Myriam und ihre Familie wieder in einem Zelt, direkt am Meer. Die Mutter bindet ihre Hände nachts mit Myriams zusammen, aus Angst, dass das Mädchen nachts aus dem Zelt und ins Meer läuft.


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