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Info- Serie #5: Mythos - Die Türkei ist ein sicherer Drittstaat

Warum die Türkei kein sicherer Ort für Menschen auf der Flucht ist und warum dies eine Rolle spielt

Im November 2020 sagte der griechische Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, in einem Interview: "...wenn jemand aus dem Osten kommt und in die Türkei kommt und er in der Türkei nicht gefährdet ist, dann sollte er in Griechenland kein Asyl beantragen." Dieses Argument wurde in Griechenland und darüber hinaus immer wieder verwendet: dass die Türkei ein sicheres Land ist und deshalb Asylbewerber, die über die Türkei nach Griechenland gekommen sind, zurückgeschickt werden können und sollten, um dort Schutz zu erhalten. Dieses Argument ist weit verbreitet und wird seit Jahren in ganz Europa verwendet; insbesondere - aber bei weitem nicht ausschließlich - von der politischen Rechten. Die Vorstellung von der Türkei als sicherem Drittland war die Grundlage für den sogenannten EU-Türkei-Deal, der 2016 unterzeichnet wurde. Sie ist ein Kernelement des Vorhabens, die europäische Migrationssteuerung in Drittstaaten auszulagern. Trotz der Popularität dieser Meinung entlarven die Fakten sie als einen Mythos, der mehr auf den Versuchen der Regierungen und der Europäischen Union beruht, kreative Wege zu finden, um Menschen auf der Flucht das Recht zu verweigern, in Europa Asyl zu suchen, als auf irgendeiner gültigen rechtlichen Grundlage.



Notis Mitarakis, Griechischer Minister für Migration und Asyl, @Wikipedia, 2014, CC Lizenz


Die rechtliche Situation

Das Konzept der "sicheren Drittstaaten" wurde in den 1980er Jahren in die EU-Gesetzgebung eingeführt, um Immigration zu begrenzen und gleichzeitig Menschenrechtsstandards einzuhalten. Im Jahr 2005 wurde es in das EU-Recht und 2013 in die erste Asylverfahrensrichtlinie aufgenommen. In jüngster Zeit ist es zu einer beliebten, wenn auch rechtlich zweifelhaften Möglichkeit für Länder geworden, Menschen auf der Flucht die Zuflucht zu verweigern, indem man behauptet, sie müssten in dem ersten sicheren Land, das sie durchqueren, Asyl beantragen. Trotz seiner häufigen Verwendung argumentieren viele Organisationen, darunter das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR), dass es keine Rechtfertigung für eine Regelung zum "sicheren Drittstaat" gibt und dass das Konzept von der EU verwendet wird, um Migrationsströme zu manipulieren, was als Diskriminierung gelten könnte.


Bevor man sich mit der Frage beschäftigt, ob die Türkei als sicheres Drittland betrachtet werden kann oder nicht, ist es wichtig, zunächst zu verstehen, was der Begriff "sicheres Drittland" bedeutet. Es gibt jedoch keine allgemein anerkannte rechtliche Definition eines sicheren Drittstaates. Artikel 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie definiert ihn als ein Land, das mehrere Kriterien erfüllt, darunter, dass "der Grundsatz des Non-Refoulements (Nichtzurückweisung) eingehalten wird" und "die Möglichkeit besteht, den Flüchtlingsstatus zu beantragen...in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention".


Das Hauptproblem bei der Einstufung der Türkei als sicheres Drittland ist, dass sie eine extrem enge Definition hat, wer als Flüchtling anzusehen ist. Als die Türkei die Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnete, war sie eines von nur vier Ländern, die die optionale geografische Beschränkung einführten, die den Kreis der Geflüchteten auf diejenigen beschränken, die von "Ereignissen in Europa" betroffen waren. Sie behielt die geografische Beschränkung bei, als sie das Protokoll von 1967 unterzeichnete, was bedeutet, dass die Türkei bis heute nur Menschen, die aus Europa vertrieben wurden, als Geflüchtete anerkennt. Das hat zur Folge, dass keiner der heute in der Türkei lebenden ca. 4 Millionen Geflüchteten den Flüchtlingsstatus mit allen ihnen in den Genfer Konventionen zugesprochenen Rechten erhalten hat. Dies verstößt eindeutig gegen die oben erwähnte Anforderung eines sicheren Drittstaates, dass "die Möglichkeit besteht, den Flüchtlingsstatus zu beantragen...in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention". Außerdem verstößt es gegen die EU-Richtlinie 2013/32/EU über Asylverfahren, die in Artikel 39 festlegt, dass ein Drittstaat nur dann als sicher gelten kann, wenn er "die Bestimmungen der Genfer Konvention ohne geografische Einschränkungen ratifiziert hat und einhält".

Situation für People on the move in der Turkei, @Josoor, 2021


Anstatt den mindestens 3,6 Millionen Syrer*innen, die sich in der Türkei aufhalten, den Flüchtlingsstatus zu gewähren, schuf die türkische Regierung stattdessen neue nationale Gesetze, um ihnen eine Art von Rechtsstatus zu bieten, darunter das 2013 verabschiedete Gesetz über Ausländer und internationalen Schutz (Law on Foreigners and International Protection, LFIP) und die 2014 verabschiedete Verordnung über temporären Schutz (TPR). Diese beiden Gesetze bieten einige der gleichen Schutzmaßnahmen und Vorteile wie die Genfer Konvention, wie z. B. den Zugang zu Rechten und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, jedoch ohne die gleichen Garantien, die mit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus einhergehen. So ist es für Geflüchtete zum Beispiel extrem schwierig, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, um am offiziellen Arbeitsmarkt teilnehmen zu können, so dass die große Mehrheit der Geflüchteten gezwungen ist, auf dem inoffiziellen Arbeitsmarkt zu arbeiten, der im Allgemeinen schlechter bezahlt wird, oft ausbeuterisch ist und keinerlei Schutz für Arbeitnehmer*innen bietet. Viele Geflüchtete mit internationalem Schutzstatus in der Türkei haben seit Jahrzehnten keinen Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt. Da der Schutz für Geflüchtete nicht an internationales Recht gebunden ist, kann die Türkei zudem jederzeit ihre Gesetze ändern. Artikel 11 der TPR erlaubt es der Regierung, "den vorübergehenden Schutz zu beenden" und "Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, in ihre Länder zurückzuschicken". So wird den Menschen nicht die gleiche langfristige Sicherheit gewährt, die normalerweise mit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus in anderen Ländern einhergeht. Darüber hinaus gibt es auch viele Probleme mit dem angeblich garantierten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten.


Während diese kürzlich geschaffenen nationalen Gesetze es Millionen von syrischen Geflüchteten ermöglicht haben, vorübergehenden Schutz in der Türkei zu genießen, sind sie kein adäquater Ersatz für die Genfer Konvention von 1951 und schließen größtenteils alle nicht-syrischen Geflüchteten aus.


Aus all diesen Gründen sollten andere Staaten, die die rechtliche Situation im Land beurteilen, die Türkei nicht als sicheren Drittstaat behandeln.


Syrische Geflüchtete arbeiten als Tagelöhner in einer Textilfabrik in Istanbul, Türkei, @REUTERS/Cansu Alkaya, 2019


Menschenrechte in der Türkei

Ein weiteres Problem bei der Behandlung der Türkei als sicheres Land ist ihre problematische Historie mit der Abschiebung von Menschen auf der Flucht zurück in unsichere Länder. Neben der Abschiebung tausender Afghan*innen im Jahr 2018, die leider in ganz Europa zu einer gängigen Praxis geworden ist, schiebt die Türkei viele Syrer*innen illegal ab, obwohl sie den legalen Status des türkischen vorübergehenden Schutzes erhalten haben und oft im Prozess zur Erlangung der Staatsbürgerschaft sind. Berichte zeigen, dass diese Geflüchteten illegal inhaftiert und gezwungen werden, "freiwillige" Rückkehrerklärungen zu unterschreiben, in denen sie ihre angebliche Gefahr für die Sicherheit und die öffentliche Gesundheit anerkennen. Hierfür gibt es mehrere Gründe, darunter Rassismus, wirtschaftliche Probleme und Nationalismus. Die Behörden behaupten, dass 315.000 Geflüchtete bis 2019 freiwillig nach Syrien zurückgekehrt seien. Angesichts der zahlreichen Berichte über erzwungene "freiwillige" Rückführungen ist unklar, wie viele von ihnen wirklich aus eigenem Antrieb zurückgekehrt sind.


Abgesehen davon, dass die Türkei vor allem für Menschen auf der Flucht unsicher ist, werden auch die Menschenrechte der eigenen Bürger*innen missachtet. Ein Beispiel ist die Behandlung der kurdischen Bevölkerung der Türkei, der durch Delegitimierung und Kriminalisierung ihrer gewählten Vertreter systematisch demokratische Rechte vorenthalten werden. Weitere Beispiele sind die weit verbreiteten willkürlichen Verhaftungen und Berichte über Folter und unmenschliche Behandlung von Gefangenen, die zu zwei Berichten des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter in den Jahren 2017 und 2019 führten. Es gibt auch viele Fälle von Verletzungen von Frauenrechten und LGTBQ+-Rechten, wie in den letzten Wochen überall in den Medien gezeigt wurde, sowie schwere Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.


Aus all diesen Gründen ist die Türkei von der Liste der sogenannten "sicheren Herkunftsländer" der meisten EU-Mitgliedstaaten ausgeschlossen. Tatsächlich berichtet das UNHCR, dass mehr als die Hälfte der Asylanträge türkischer Staatsbürger in Europa bewilligt werden. Mit fast 30.000 Anträgen liegt das Land zudem an sechster Stelle der Herkunftsländer von Asylbewerber*innen in Europa.


Es liegt auf der Hand, dass ein Land, das für viele seiner eigenen Bürger*innen nicht sicher ist und die Rechte von Minderheitengruppen verletzt, nicht als sicher für Asylsuchende gelten kann; erst recht nicht, wenn diese zu eben diesen Minderheitengruppen gehören.


Protest in Istanbul, Türkei, @EPA-EFE/SEDAT SUNA, 2019


Der EU-Türkei-Deal

Im März 2016 einigten sich die Europäische Union und die türkische Regierung in einer Erklärung zur Zusammenarbeit auf den sogenannten "EU-Türkei Deal". Dies war das Ergebnis intensiver Verhandlungen, die von dem Wunsch der EU nach einer "Migrationskooperation" zwischen den beiden Parteien getragen wurden. Die EU wollte die Zahl der Asylbewerber*innen, die aus der Türkei in die EU - namentlich nach Griechenland, Bulgarien und Italien - einreisen, reduzieren und im Gegenzug die türkische Regierung bei der "Migrationskontrolle" unterstützen.


Neben Versprechungen bezüglich der Visafreiheit und einer Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei, versprach die EU 6 Milliarden Euro an Fördermitteln. Dieses Geld sollte nicht an die türkische Regierung, sondern an internationale Organisationen mit Sitz in der Europäischen Union übergeben werden, um Projekte zur Unterstützung von Geflüchteten in der Türkei durchzuführen. Im Jahr 2019 erklärte das deutsche Außenministerium jedoch, dass die türkische Regierung mehr Befugnisse hinsichtlich der Kontrolle über das Geld erhalten habe.


Im Gegenzug für diese Zusagen erklärte sich die Türkei bereit, die Ausreise von Asylbewerber*innen aus dem türkischen Staatsgebiet zu verhindern und diejenigen zurückzunehmen, die irregulär die Grenze nach Griechenland überquert hatten, aber nicht asylberechtigt waren, kein Asyl beantragt oder ihren Antrag zurückgezogen hatten. Für jede*n der auf diese Weise in die Türkei " zurückgenommenen" syrischen Geflüchteten verpflichtete sich die EU, eine*n der vielen in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten in EU-Länder umzusiedeln (Details hier). Die EU selbst scheint sich des Risikos von Pushbacks unter diesem neuen Deal bewusst gewesen zu sein, denn es wurde auch klargestellt: "Dies wird in voller Übereinstimmung mit EU- und internationalem Recht geschehen, wodurch jede Art von kollektiver Abschiebung ausgeschlossen wird. Alle Migrant*innen werden in Übereinstimmung mit den einschlägigen internationalen Standards und unter Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung geschützt werden." Die EU versprach außerdem, einige Aspekte der türkischen Integration in die EU zu verbessern und die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei wieder aufzunehmen.


Im Januar 2020 verabschiedete die griechische Regierung ein Gesetz, um Asylanträge zu beschleunigen und Asylsuchende viel schneller in die Türkei zurückzuschicken. Teil dieser neuen Politik ist auch, dass alle Syrer*innen in der Türkei als sicher gelten und zurückgeschickt werden können. Da Rückübernahmen in die Türkei aufgrund von Covid-19-Beschränkungen und anderen Gründen derzeit nicht möglich sind, werden diese Menschen nun in Abschiebezentren festgehalten.


Auszug einer EU Broschüre zum EU-Türkei Deal, @Europäische Kommission, 2018


Andere Beweggründe?

Die Maßnahmen dieses wegweisenden Abkommens wurden von der Europäischen Union als humanitäre Initiative zur Verbesserung der Bedingungen für Menschen auf der Flucht in der Türkei dargestellt. Es ist jedoch klar, dass der EU-Türkei-Deal nur ein weiterer Schritt in der zunehmenden Externalisierung des "Grenzmanagements" durch die EU ist, wobei die Menschenrechte und die Sicherheit der Schutzsuchenden missachtet werden. Ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung ist das ähnliche Abkommen, das die EU mit dem noch unsichereren Libyen geschlossen hat. Sie zeigt sich auch im "Hotspot-Ansatz" der EU, der Aufnahmeeinrichtungen für Schutzsuchende in Haftanstalten verwandelt hat. Diese halten eine große Anzahl von Menschen fest, denen die Menschen- und Asylrechte sowie die Bewegungsfreiheit verweigert werden.


Das eigentliche Motiv, die Zahl der Geflüchteten in Griechenland zu reduzieren, wurde immer deutlicher. Mit der schnelleren Ablehnung von Asylanträgen und der Umwandlung von Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende in Haftanstalten wurde offensichtlich, dass der EU-Türkei-Deal ein weiterer Mechanismus zur Verschärfung der Grenzen der Festung Europa war. In der Folge hat sich die Menschenrechtssituation für Asylsuchende in Griechenland deutlich verschlechtert.


Diese Entwicklungen werden sich nur weiter beschleunigen, wenn der "Neue Pakt zu Migration und Asyl" verabschiedet wird. Dieser politische Plan wurde von der Europäischen Kommission im September 2020 vorgestellt und schlägt vor, die bestehende, langjährige Migrationspolitik der EU komplett zu überarbeiten. Dabei besteht die Gefahr, dass er den Fokus auf Externalisierung, Abschreckung, Eindämmung, schnellere Zurückweisung und Rückführung von Schutzsuchenden in unsichere Länder wie die Türkei verschärft. Der Pakt wurde von Organisationen, Menschenrechtsbeobachtern und zivilgesellschaftlichen Netzwerken heftig kritisiert.


Das Scheitern des EU-Türkei-Deals

In den ersten beiden Jahren des Deals stellte die EU 3 Milliarden Euro für Bildung von über einer halben Million syrischer Geflüchteter im Kindesalter zur Verfügung. Im März 2018 kündigte die EU an, dass die zweite Tranche von 3 Milliarden Euro "zur Verfügung gestellt" werde. Die türkische Regierung bestritt dies jedoch und behauptete, sie habe nur 1,85 Milliarden Euro von der EU erhalten. Während des gesamten zweiten Jahres des Abkommens drohte die Türkei immer wieder mit der Kündigung des Abkommens, weil erstens die EU nicht die vereinbarte Summe gezahlt habe und zweitens weder die im Abkommen vorgesehene Visafreiheit für türkische Bürger noch die Ausweitung der Zollunion umgesetzt worden sei. Darüber hinaus wurden viele der politischen Verpflichtungen, die die EU gegenüber der Türkei eingegangen ist, insbesondere die Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft, aufgrund der autoritären Entwicklungen der türkischen Regierung abgebrochen. Fast zwei Jahre später, im Dezember 2020 - nachdem die Türkei das Leben von Menschen auf der Flucht als Druckmittel in den Verhandlungen missbraucht hatte - gab die EU bekannt, dass sie die letzte Rate des 6-Milliarden-Euro-Fonds gezahlt habe - andere Quellen sprechen jedoch davon, dass bisher nur 4,1 Milliarden überwiesen worden seien.


Fünf Jahre nach dem Abkommen ist der Deal praktisch gescheitert - moralisch und an seinen eigenen Maßstäben. Tausende von Geflüchteten sind in Griechenland in der Schwebe, was zu einer Überfüllung der Hotspots führt. Sowohl in Griechenland als auch in der Türkei sind die Spannungen zwischen den Sicherheitskräften und den aufnehmenden Kommunen gegen die Menschen auf der Flucht gestiegen. Auch der politische Wille der Türkei hat sich angesichts der zunehmenden öffentlichen Feindseligkeit und Abneigung gegenüber den Menschen auf der Flucht und der wachsenden Wut auf Europa, das nicht seinen Teil beiträgt, verflüchtigt. Die Türkei beherbergt mindestens - die Zahl dürfte aufgrund der in der Türkei lebenden Menschen ohne Papiere deutlich höher sein - 4 Millionen Geflüchtete. Zum Vergleich: Seit 2016 hat die EU gerade einmal 25.000 syrische Geflüchtete aus der Türkei umgesiedelt. Da die meisten Geflüchteten außer Sichtweite und weit weg von den EU-Grenzen sind, haben die EU-Mitgliedstaaten das Problem einfach beiseite gewischt.


Der aktuelle Status des Deals, Stand 2021, ist in der Schwebe. Da die letzte Rate im Dezember 2020 an die Türkei gezahlt wurde, gibt es laufende Gespräche über eine Erneuerung des Abkommens, aber beide Seiten haben Schwierigkeiten, sich in der Mitte zu treffen. Eine der Forderungen, die die EU nicht zu erfüllen bereit ist, scheint die Forderung der Türkei zu sein, dass die EU für die Umsiedlung von Syrer*innen aus der Türkei in die türkisch besetzten Gebiete in Syrien zahlt. Dies würde bedeuten, die Türkei offiziell und öffentlich als Besatzungsmacht anzuerkennen - etwas, dem die EU niemals zustimmen könnte. Im Jahr 2020 verhängte die EU - wie auch die USA - milde Sanktionen gegen die Türkei aufgrund von Bedenken über demokratische Rückschritte und systematische Menschenrechtsverletzungen. Vor etwas mehr als einer Woche kündigte Präsident Erdogan seinen "Aktionsplan für Menschenrechte" als Reaktion auf den zunehmenden Druck der EU und der USA an - während er weiterhin hart gegen Oppositionsparteien, die LGBTQI+-Community und andere vorgeht. Die Zukunft des Abkommens ist ungewiss - und die Verhandlungen darüber sehr intransparent.


Protest in Lesvos, @Amnesty International Canada, 2017


Fazit

Hinter all diesen Diskussionen steht die Annahme, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat für Asylsuchende und Geflüchtete ist. Sie war die Grundlage des EU-Türkei-Deals und wird von verschiedenen politischen Entscheidungsträgern und Kommentatoren zur Legitimation der Rückführung von Geflüchteten in die Türkei herangezogen. Doch nicht nur das Konzept des "sicheren Drittstaates" ist völkerrechtlich höchst zweifelhaft, sondern die Türkei kann eindeutig nicht als solches betrachtet werden. Es bleibt die schlichte Tatsache, dass die Türkei Geflüchteten und Asylbewerbern nicht den Schutz gewährt, auf den sie nach der Genfer Konvention Anspruch hätten. Die Türkei verzeichnet fortwährend Menschenrechtsverletzungen, hat eine Geschichte von erzwungenen kollektiven Ausweisungen von Menschen auf der Flucht und ist selbst ein Land, aus dem Menschen fliehen, um Schutz vor Verfolgung und Gewalt im Ausland zu suchen.


Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben all diese Fakten bereitwillig ignoriert und auf die Türkei gesetzt, um mit Menschen auf der Flucht umzugehen, die in Europa Sicherheit und Schutz suchen. Trotz ihrer Behauptungen, durch den EU-Türkei-Deal Leben retten und Schleuser stoppen zu wollen, hat die Europäische Union die Türkei im Grunde genommen dafür bezahlt, das schmutzige Geschäft zu machen, mit dem sie selbst nicht in Verbindung gebracht werden möchte.


Wenn man über die Türkei als sicheres Drittland spricht, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Begriff "sicheres Land" ein politisierter Begriff ist, der von bestimmten Gruppen in der EU verwendet wird, um den scheinbar vorteilhaften Deal mit der Türkei zu rechtfertigen und ein Abkommen zu legitimieren und zu entschärfen, dass das Leben von Menschen in Gefahr bringt und die Brutalität des europäischen Grenzregimes einfach nur externalisiert.



Zum Weiterlesen:


Pro Asyl: Die Türkei ist kein sicheres Land für Flüchtlinge, März 2020


ZDF Heute: Flüchtlinge in der Türkei, Januar 2020


Bundeszentrale für politische Bildung: Die Asylpolitik der Türkei: Ein Überblick (Nuray Ekşi), Juli 2016


Statewatch Analysis: Why Turkey is Not a “Safe Country” (Emanuela Roman, Theodore Baird, Ralia Radcliffe), Februar 2016


Asylum in Europe: Introduction to Asylum Context in Turkey, November 2020


Human Rights Watch: Is Turkey Safe for Refugees? (Bill Frelick), Mar 2016


Refugee Support Aegean: #StopTheToxicDeal: Turkey as a “Safe Third Country”, Mar 2018


Law Faculty Oxford: Turkey as a Safe Third Country? (Orçun Ulusoy), Mar 2016


Mediterranea Berlin: Across the Border: The situation of refugees in Turkey (video), Feb 2021


MdB Sevim Dagdelen (Die Linke): Fast jeder zweite Asylbewerber aus Türkei erhielt 2020 Schutzstatus, Februar 2021


MdEP Tineke Strik (Greens/EFA): Zur Situation von syrischen Geflüchteten in und außerhalb von Syrien, inbesondere in der Türkei, March 2021



Im November 2020 sagte der griechische Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, in einem Interview: "...wenn jemand aus dem Osten kommt und in die Türkei kommt und er in der Türkei nicht gefährdet ist, dann sollte er in Griechenland kein Asyl beantragen." Dieses Argument wurde in Griechenland und darüber hinaus immer wieder verwendet: dass die Türkei ein sicheres Land ist und deshalb Asylbewerber, die über die Türkei nach Griechenland gekommen sind, zurückgeschickt werden können und sollten, um dort Schutz zu erhalten. Dieses Argument ist weit verbreitet und wird seit Jahren in ganz Europa verwendet; insbesondere - aber bei weitem nicht ausschließlich - von der politischen Rechten. Die Vorstellung von der Türkei als sicherem Drittland war die Grundlage für den sogenannten EU-Türkei-Deal, der 2016 unterzeichnet wurde. Sie ist ein Kernelement des Vorhabens, die europäische Migrationssteuerung in Drittstaaten auszulagern. Trotz der Popularität dieser Meinung entlarven die Fakten sie als einen Mythos, der mehr auf den Versuchen der Regierungen und der Europäischen Union beruht, kreative Wege zu finden, um Menschen auf der Flucht das Recht zu verweigern, in Europa Asyl zu suchen, als auf irgendeiner gültigen rechtlichen Grundlage.



Notis Mitarakis, Griechischer Minister für Migration und Asyl, @Wikipedia, 2014, CC Lizenz


Die rechtliche Situation

Das Konzept der "sicheren Drittstaaten" wurde in den 1980er Jahren in die EU-Gesetzgebung eingeführt, um Immigration zu begrenzen und gleichzeitig Menschenrechtsstandards einzuhalten. Im Jahr 2005 wurde es in das EU-Recht und 2013 in die erste Asylverfahrensrichtlinie aufgenommen. In jüngster Zeit ist es zu einer beliebten, wenn auch rechtlich zweifelhaften Möglichkeit für Länder geworden, Menschen auf der Flucht die Zuflucht zu verweigern, indem man behauptet, sie müssten in dem ersten sicheren Land, das sie durchqueren, Asyl beantragen. Trotz seiner häufigen Verwendung argumentieren viele Organisationen, darunter das Büro des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR), dass es keine Rechtfertigung für eine Regelung zum "sicheren Drittstaat" gibt und dass das Konzept von der EU verwendet wird, um Migrationsströme zu manipulieren, was als Diskriminierung gelten könnte.


Bevor man sich mit der Frage beschäftigt, ob die Türkei als sicheres Drittland betrachtet werden kann oder nicht, ist es wichtig, zunächst zu verstehen, was der Begriff "sicheres Drittland" bedeutet. Es gibt jedoch keine allgemein anerkannte rechtliche Definition eines sicheren Drittstaates. Artikel 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie definiert ihn als ein Land, das mehrere Kriterien erfüllt, darunter, dass "der Grundsatz des Non-Refoulements (Nichtzurückweisung) eingehalten wird" und "die Möglichkeit besteht, den Flüchtlingsstatus zu beantragen...in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention".


Das Hauptproblem bei der Einstufung der Türkei als sicheres Drittland ist, dass sie eine extrem enge Definition hat, wer als Flüchtling anzusehen ist. Als die Türkei die Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnete, war sie eines von nur vier Ländern, die die optionale geografische Beschränkung einführten, die den Kreis der Geflüchteten auf diejenigen beschränken, die von "Ereignissen in Europa" betroffen waren. Sie behielt die geografische Beschränkung bei, als sie das Protokoll von 1967 unterzeichnete, was bedeutet, dass die Türkei bis heute nur Menschen, die aus Europa vertrieben wurden, als Geflüchtete anerkennt. Das hat zur Folge, dass keiner der heute in der Türkei lebenden ca. 4 Millionen Geflüchteten den Flüchtlingsstatus mit allen ihnen in den Genfer Konventionen zugesprochenen Rechten erhalten hat. Dies verstößt eindeutig gegen die oben erwähnte Anforderung eines sicheren Drittstaates, dass "die Möglichkeit besteht, den Flüchtlingsstatus zu beantragen...in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention". Außerdem verstößt es gegen die EU-Richtlinie 2013/32/EU über Asylverfahren, die in Artikel 39 festlegt, dass ein Drittstaat nur dann als sicher gelten kann, wenn er "die Bestimmungen der Genfer Konvention ohne geografische Einschränkungen ratifiziert hat und einhält".

Situation für People on the move in der Turkei, @Josoor, 2021


Anstatt den mindestens 3,6 Millionen Syrer*innen, die sich in der Türkei aufhalten, den Flüchtlingsstatus zu gewähren, schuf die türkische Regierung stattdessen neue nationale Gesetze, um ihnen eine Art von Rechtsstatus zu bieten, darunter das 2013 verabschiedete Gesetz über Ausländer und internationalen Schutz (Law on Foreigners and International Protection, LFIP) und die 2014 verabschiedete Verordnung über temporären Schutz (TPR). Diese beiden Gesetze bieten einige der gleichen Schutzmaßnahmen und Vorteile wie die Genfer Konvention, wie z. B. den Zugang zu Rechten und Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, jedoch ohne die gleichen Garantien, die mit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus einhergehen. So ist es für Geflüchtete zum Beispiel extrem schwierig, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, um am offiziellen Arbeitsmarkt teilnehmen zu können, so dass die große Mehrheit der Geflüchteten gezwungen ist, auf dem inoffiziellen Arbeitsmarkt zu arbeiten, der im Allgemeinen schlechter bezahlt wird, oft ausbeuterisch ist und keinerlei Schutz für Arbeitnehmer*innen bietet. Viele Geflüchtete mit internationalem Schutzstatus in der Türkei haben seit Jahrzehnten keinen Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt. Da der Schutz für Geflüchtete nicht an internationales Recht gebunden ist, kann die Türkei zudem jederzeit ihre Gesetze ändern. Artikel 11 der TPR erlaubt es der Regierung, "den vorübergehenden Schutz zu beenden" und "Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, in ihre Länder zurückzuschicken". So wird den Menschen nicht die gleiche langfristige Sicherheit gewährt, die normalerweise mit der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus in anderen Ländern einhergeht. Darüber hinaus gibt es auch viele Probleme mit dem angeblich garantierten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialen Diensten.


Während diese kürzlich geschaffenen nationalen Gesetze es Millionen von syrischen Geflüchteten ermöglicht haben, vorübergehenden Schutz in der Türkei zu genießen, sind sie kein adäquater Ersatz für die Genfer Konvention von 1951 und schließen größtenteils alle nicht-syrischen Geflüchteten aus.


Aus all diesen Gründen sollten andere Staaten, die die rechtliche Situation im Land beurteilen, die Türkei nicht als sicheren Drittstaat behandeln.


Syrische Geflüchtete arbeiten als Tagelöhner in einer Textilfabrik in Istanbul, Türkei, @REUTERS/Cansu Alkaya, 2019


Menschenrechte in der Türkei

Ein weiteres Problem bei der Behandlung der Türkei als sicheres Land ist ihre problematische Historie mit der Abschiebung von Menschen auf der Flucht zurück in unsichere Länder. Neben der Abschiebung tausender Afghan*innen im Jahr 2018, die leider in ganz Europa zu einer gängigen Praxis geworden ist, schiebt die Türkei viele Syrer*innen illegal ab, obwohl sie den legalen Status des türkischen vorübergehenden Schutzes erhalten haben und oft im Prozess zur Erlangung der Staatsbürgerschaft sind. Berichte zeigen, dass diese Geflüchteten illegal inhaftiert und gezwungen werden, "freiwillige" Rückkehrerklärungen zu unterschreiben, in denen sie ihre angebliche Gefahr für die Sicherheit und die öffentliche Gesundheit anerkennen. Hierfür gibt es mehrere Gründe, darunter Rassismus, wirtschaftliche Probleme und Nationalismus. Die Behörden behaupten, dass 315.000 Geflüchtete bis 2019 freiwillig nach Syrien zurückgekehrt seien. Angesichts der zahlreichen Berichte über erzwungene "freiwillige" Rückführungen ist unklar, wie viele von ihnen wirklich aus eigenem Antrieb zurückgekehrt sind.


Abgesehen davon, dass die Türkei vor allem für Menschen auf der Flucht unsicher ist, werden auch die Menschenrechte der eigenen Bürger*innen missachtet. Ein Beispiel ist die Behandlung der kurdischen Bevölkerung der Türkei, der durch Delegitimierung und Kriminalisierung ihrer gewählten Vertreter systematisch demokratische Rechte vorenthalten werden. Weitere Beispiele sind die weit verbreiteten willkürlichen Verhaftungen und Berichte über Folter und unmenschliche Behandlung von Gefangenen, die zu zwei Berichten des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter in den Jahren 2017 und 2019 führten. Es gibt auch viele Fälle von Verletzungen von Frauenrechten und LGTBQ+-Rechten, wie in den letzten Wochen überall in den Medien gezeigt wurde, sowie schwere Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.


Aus all diesen Gründen ist die Türkei von der Liste der sogenannten "sicheren Herkunftsländer" der meisten EU-Mitgliedstaaten ausgeschlossen. Tatsächlich berichtet das UNHCR, dass mehr als die Hälfte der Asylanträge türkischer Staatsbürger in Europa bewilligt werden. Mit fast 30.000 Anträgen liegt das Land zudem an sechster Stelle der Herkunftsländer von Asylbewerber*innen in Europa.


Es liegt auf der Hand, dass ein Land, das für viele seiner eigenen Bürger*innen nicht sicher ist und die Rechte von Minderheitengruppen verletzt, nicht als sicher für Asylsuchende gelten kann; erst recht nicht, wenn diese zu eben diesen Minderheitengruppen gehören.


Protest in Istanbul, Türkei, @EPA-EFE/SEDAT SUNA, 2019


Der EU-Türkei-Deal

Im März 2016 einigten sich die Europäische Union und die türkische Regierung in einer Erklärung zur Zusammenarbeit auf den sogenannten "EU-Türkei Deal". Dies war das Ergebnis intensiver Verhandlungen, die von dem Wunsch der EU nach einer "Migrationskooperation" zwischen den beiden Parteien getragen wurden. Die EU wollte die Zahl der Asylbewerber*innen, die aus der Türkei in die EU - namentlich nach Griechenland, Bulgarien und Italien - einreisen, reduzieren und im Gegenzug die türkische Regierung bei der "Migrationskontrolle" unterstützen.


Neben Versprechungen bezüglich der Visafreiheit und einer Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei, versprach die EU 6 Milliarden Euro an Fördermitteln. Dieses Geld sollte nicht an die türkische Regierung, sondern an internationale Organisationen mit Sitz in der Europäischen Union übergeben werden, um Projekte zur Unterstützung von Geflüchteten in der Türkei durchzuführen. Im Jahr 2019 erklärte das deutsche Außenministerium jedoch, dass die türkische Regierung mehr Befugnisse hinsichtlich der Kontrolle über das Geld erhalten habe.


Im Gegenzug für diese Zusagen erklärte sich die Türkei bereit, die Ausreise von Asylbewerber*innen aus dem türkischen Staatsgebiet zu verhindern und diejenigen zurückzunehmen, die irregulär die Grenze nach Griechenland überquert hatten, aber nicht asylberechtigt waren, kein Asyl beantragt oder ihren Antrag zurückgezogen hatten. Für jede*n der auf diese Weise in die Türkei " zurückgenommenen" syrischen Geflüchteten verpflichtete sich die EU, eine*n der vielen in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten in EU-Länder umzusiedeln (Details hier). Die EU selbst scheint sich des Risikos von Pushbacks unter diesem neuen Deal bewusst gewesen zu sein, denn es wurde auch klargestellt: "Dies wird in voller Übereinstimmung mit EU- und internationalem Recht geschehen, wodurch jede Art von kollektiver Abschiebung ausgeschlossen wird. Alle Migrant*innen werden in Übereinstimmung mit den einschlägigen internationalen Standards und unter Beachtung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung geschützt werden." Die EU versprach außerdem, einige Aspekte der türkischen Integration in die EU zu verbessern und die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei wieder aufzunehmen.


Im Januar 2020 verabschiedete die griechische Regierung ein Gesetz, um Asylanträge zu beschleunigen und Asylsuchende viel schneller in die Türkei zurückzuschicken. Teil dieser neuen Politik ist auch, dass alle Syrer*innen in der Türkei als sicher gelten und zurückgeschickt werden können. Da Rückübernahmen in die Türkei aufgrund von Covid-19-Beschränkungen und anderen Gründen derzeit nicht möglich sind, werden diese Menschen nun in Abschiebezentren festgehalten.


Auszug einer EU Broschüre zum EU-Türkei Deal, @Europäische Kommission, 2018


Andere Beweggründe?

Die Maßnahmen dieses wegweisenden Abkommens wurden von der Europäischen Union als humanitäre Initiative zur Verbesserung der Bedingungen für Menschen auf der Flucht in der Türkei dargestellt. Es ist jedoch klar, dass der EU-Türkei-Deal nur ein weiterer Schritt in der zunehmenden Externalisierung des "Grenzmanagements" durch die EU ist, wobei die Menschenrechte und die Sicherheit der Schutzsuchenden missachtet werden. Ein weiteres Beispiel für diese Entwicklung ist das ähnliche Abkommen, das die EU mit dem noch unsichereren Libyen geschlossen hat. Sie zeigt sich auch im "Hotspot-Ansatz" der EU, der Aufnahmeeinrichtungen für Schutzsuchende in Haftanstalten verwandelt hat. Diese halten eine große Anzahl von Menschen fest, denen die Menschen- und Asylrechte sowie die Bewegungsfreiheit verweigert werden.


Das eigentliche Motiv, die Zahl der Geflüchteten in Griechenland zu reduzieren, wurde immer deutlicher. Mit der schnelleren Ablehnung von Asylanträgen und der Umwandlung von Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende in Haftanstalten wurde offensichtlich, dass der EU-Türkei-Deal ein weiterer Mechanismus zur Verschärfung der Grenzen der Festung Europa war. In der Folge hat sich die Menschenrechtssituation für Asylsuchende in Griechenland deutlich verschlechtert.


Diese Entwicklungen werden sich nur weiter beschleunigen, wenn der "Neue Pakt zu Migration und Asyl" verabschiedet wird. Dieser politische Plan wurde von der Europäischen Kommission im September 2020 vorgestellt und schlägt vor, die bestehende, langjährige Migrationspolitik der EU komplett zu überarbeiten. Dabei besteht die Gefahr, dass er den Fokus auf Externalisierung, Abschreckung, Eindämmung, schnellere Zurückweisung und Rückführung von Schutzsuchenden in unsichere Länder wie die Türkei verschärft. Der Pakt wurde von Organisationen, Menschenrechtsbeobachtern und zivilgesellschaftlichen Netzwerken heftig kritisiert.


Das Scheitern des EU-Türkei-Deals

In den ersten beiden Jahren des Deals stellte die EU 3 Milliarden Euro für Bildung von über einer halben Million syrischer Geflüchteter im Kindesalter zur Verfügung. Im März 2018 kündigte die EU an, dass die zweite Tranche von 3 Milliarden Euro "zur Verfügung gestellt" werde. Die türkische Regierung bestritt dies jedoch und behauptete, sie habe nur 1,85 Milliarden Euro von der EU erhalten. Während des gesamten zweiten Jahres des Abkommens drohte die Türkei immer wieder mit der Kündigung des Abkommens, weil erstens die EU nicht die vereinbarte Summe gezahlt habe und zweitens weder die im Abkommen vorgesehene Visafreiheit für türkische Bürger noch die Ausweitung der Zollunion umgesetzt worden sei. Darüber hinaus wurden viele der politischen Verpflichtungen, die die EU gegenüber der Türkei eingegangen ist, insbesondere die Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft, aufgrund der autoritären Entwicklungen der türkischen Regierung abgebrochen. Fast zwei Jahre später, im Dezember 2020 - nachdem die Türkei das Leben von Menschen auf der Flucht als Druckmittel in den Verhandlungen missbraucht hatte - gab die EU bekannt, dass sie die letzte Rate des 6-Milliarden-Euro-Fonds gezahlt habe - andere Quellen sprechen jedoch davon, dass bisher nur 4,1 Milliarden überwiesen worden seien.


Fünf Jahre nach dem Abkommen ist der Deal praktisch gescheitert - moralisch und an seinen eigenen Maßstäben. Tausende von Geflüchteten sind in Griechenland in der Schwebe, was zu einer Überfüllung der Hotspots führt. Sowohl in Griechenland als auch in der Türkei sind die Spannungen zwischen den Sicherheitskräften und den aufnehmenden Kommunen gegen die Menschen auf der Flucht gestiegen. Auch der politische Wille der Türkei hat sich angesichts der zunehmenden öffentlichen Feindseligkeit und Abneigung gegenüber den Menschen auf der Flucht und der wachsenden Wut auf Europa, das nicht seinen Teil beiträgt, verflüchtigt. Die Türkei beherbergt mindestens - die Zahl dürfte aufgrund der in der Türkei lebenden Menschen ohne Papiere deutlich höher sein - 4 Millionen Geflüchtete. Zum Vergleich: Seit 2016 hat die EU gerade einmal 25.000 syrische Geflüchtete aus der Türkei umgesiedelt. Da die meisten Geflüchteten außer Sichtweite und weit weg von den EU-Grenzen sind, haben die EU-Mitgliedstaaten das Problem einfach beiseite gewischt.


Der aktuelle Status des Deals, Stand 2021, ist in der Schwebe. Da die letzte Rate im Dezember 2020 an die Türkei gezahlt wurde, gibt es laufende Gespräche über eine Erneuerung des Abkommens, aber beide Seiten haben Schwierigkeiten, sich in der Mitte zu treffen. Eine der Forderungen, die die EU nicht zu erfüllen bereit ist, scheint die Forderung der Türkei zu sein, dass die EU für die Umsiedlung von Syrer*innen aus der Türkei in die türkisch besetzten Gebiete in Syrien zahlt. Dies würde bedeuten, die Türkei offiziell und öffentlich als Besatzungsmacht anzuerkennen - etwas, dem die EU niemals zustimmen könnte. Im Jahr 2020 verhängte die EU - wie auch die USA - milde Sanktionen gegen die Türkei aufgrund von Bedenken über demokratische Rückschritte und systematische Menschenrechtsverletzungen. Vor etwas mehr als einer Woche kündigte Präsident Erdogan seinen "Aktionsplan für Menschenrechte" als Reaktion auf den zunehmenden Druck der EU und der USA an - während er weiterhin hart gegen Oppositionsparteien, die LGBTQI+-Community und andere vorgeht. Die Zukunft des Abkommens ist ungewiss - und die Verhandlungen darüber sehr intransparent.


Protest in Lesvos, @Amnesty International Canada, 2017


Fazit

Hinter all diesen Diskussionen steht die Annahme, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat für Asylsuchende und Geflüchtete ist. Sie war die Grundlage des EU-Türkei-Deals und wird von verschiedenen politischen Entscheidungsträgern und Kommentatoren zur Legitimation der Rückführung von Geflüchteten in die Türkei herangezogen. Doch nicht nur das Konzept des "sicheren Drittstaates" ist völkerrechtlich höchst zweifelhaft, sondern die Türkei kann eindeutig nicht als solches betrachtet werden. Es bleibt die schlichte Tatsache, dass die Türkei Geflüchteten und Asylbewerbern nicht den Schutz gewährt, auf den sie nach der Genfer Konvention Anspruch hätten. Die Türkei verzeichnet fortwährend Menschenrechtsverletzungen, hat eine Geschichte von erzwungenen kollektiven Ausweisungen von Menschen auf der Flucht und ist selbst ein Land, aus dem Menschen fliehen, um Schutz vor Verfolgung und Gewalt im Ausland zu suchen.


Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben all diese Fakten bereitwillig ignoriert und auf die Türkei gesetzt, um mit Menschen auf der Flucht umzugehen, die in Europa Sicherheit und Schutz suchen. Trotz ihrer Behauptungen, durch den EU-Türkei-Deal Leben retten und Schleuser stoppen zu wollen, hat die Europäische Union die Türkei im Grunde genommen dafür bezahlt, das schmutzige Geschäft zu machen, mit dem sie selbst nicht in Verbindung gebracht werden möchte.


Wenn man über die Türkei als sicheres Drittland spricht, muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Begriff "sicheres Land" ein politisierter Begriff ist, der von bestimmten Gruppen in der EU verwendet wird, um den scheinbar vorteilhaften Deal mit der Türkei zu rechtfertigen und ein Abkommen zu legitimieren und zu entschärfen, dass das Leben von Menschen in Gefahr bringt und die Brutalität des europäischen Grenzregimes einfach nur externalisiert.



Zum Weiterlesen:


Pro Asyl: Die Türkei ist kein sicheres Land für Flüchtlinge, März 2020


ZDF Heute: Flüchtlinge in der Türkei, Januar 2020


Bundeszentrale für politische Bildung: Die Asylpolitik der Türkei: Ein Überblick (Nuray Ekşi), Juli 2016


Statewatch Analysis: Why Turkey is Not a “Safe Country” (Emanuela Roman, Theodore Baird, Ralia Radcliffe), Februar 2016


Asylum in Europe: Introduction to Asylum Context in Turkey, November 2020


Human Rights Watch: Is Turkey Safe for Refugees? (Bill Frelick), Mar 2016


Refugee Support Aegean: #StopTheToxicDeal: Turkey as a “Safe Third Country”, Mar 2018


Law Faculty Oxford: Turkey as a Safe Third Country? (Orçun Ulusoy), Mar 2016


Mediterranea Berlin: Across the Border: The situation of refugees in Turkey (video), Feb 2021


MdB Sevim Dagdelen (Die Linke): Fast jeder zweite Asylbewerber aus Türkei erhielt 2020 Schutzstatus, Februar 2021


MdEP Tineke Strik (Greens/EFA): Zur Situation von syrischen Geflüchteten in und außerhalb von Syrien, inbesondere in der Türkei, March 2021



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