Info- Serie

Info- Serie #13: Frauen* auf der Flucht

Warum es ein Mythos ist, dass Migration überwiegend männlich ist, und warum wir uns mehr auf die Erfahrungen von Frauen* auf der Flucht konzentrieren und diese berücksichtigen müssen

N.B.: In diesem Artikel werden durchgehend die Begriffe "Frauen" oder "Frau" verwendet. Wenn wir diese Begriffe verwenden, beziehen wir uns auf alle, die sich als weiblich identifizieren, unabhängig davon, welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde oder heute zugeschrieben wird. Diese Begriffe werden mit einem * neben dem Wort gekennzeichnet, wie z. B.: Frauen* und Frau*.

N.B.: Der Ausdruck "Menschen auf der Flucht" wird durchgehend verwendet. Die Begriffe "Migrant:in", "Geflüchtete:r" und "Asylbewerber:in" werden ebenfalls verwendet, wenn sie dem Kontext angemessen sind und auch, wenn sie in der zitierten Quelle entsprechend verwendet werden.


Wenn rechtsgerichtete Politiker:innen über die Situation von Menschen auf der Flucht in Europa sprechen, beschwören sie oft das Bild des extremistischen, gewalttätigen, jungen männlichen "Migranten" herauf, um Angst zu schüren und die Stimmung gegen Migrant:innen anzuheizen. Leider wurde diese Rhetorik und Propaganda auch von anderen Akteur:innen des öffentlichen Diskurses übernommen und sich zu eigen gemacht, beispielsweise von Teilen der Medien, von Politiker:innen oder anderen meinungsbildend Agierenden. Dies hat zu dem weit verbreiteten Mythos geführt, dass Migration ein ausschließlich männliches Phänomen ist und dass Frauen* auf der Flucht so gut wie nicht existieren.

Obwohl Statistiken zeigen, dass dieser Mythos falsch ist, beeinflusst er dennoch direkt politische Entscheidungsträger:innen bei ihren Beschlüssen, welche versuchen, mit Menschen auf der Flucht in Europa umzugehen. In dieser Info-Reihe werden wir daher dem weit verbreiteten Irrglauben entgegenarbeiten, dass die meisten Menschen auf der Flucht erwachsene Männer seien, sowie erörtern, wie Frauen* in der Migrationspolitik systematisch übersehen werden.



Frauen* im Geflüchtetenlager Akçakale, Türkei. | @ Shutterstock, auf Oxford News Blog


Die Daten

Es gibt keine Daten, die darauf hindeuten, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen der Zahl der Frauen* und der Zahl der Männer, die sich dazu entscheiden oder gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, gäbe. Alle verfügbaren geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselten Daten zum Bestand an Migrant:innen zeigen im Grunde eine 50:50-Aufteilung zwischen Männern und Frauen. Dies gilt für die Gesamtheit der internationalen Migrant:innen, die Binnenvertriebenen (S. 28), die Staatenlosen (S. 60) und die Gesamtpopulation der grenzüberschreitend Vertriebenen (S. 16). Eine Aufschlüsselung nach Altersgruppen ergibt eine ähnliche Verteilung und zeigt, dass 42 % aller gewaltsam vertriebenen Personen Kinder sind. Es zeigt sich auch, dass etwa 28 % erwachsene Männer und 72 % Frauen* oder Kinder sind. Daraus geht hervor, dass von den weltweiten Beständen an Menschen auf der Flucht die Hälfte weiblich ist.

Diese Zahlen ändern sich, wenn ein Blick auf die Erst-Asylantragsstellenden in Europa geworfen wird. Hier weisen die Daten ein deutliches Missverhältnis auf: 63,8 % sind männlich und 36,1 % weiblich. Diese Differenz rechtfertigt zwar noch nicht die Rhetorik rechter Politiker:innen, wirft jedoch – in Anbetracht der sonst gleichmäßigen Verteilung der weltweiten Bestände an Menschen auf der Flucht - die Frage auf, warum es sie gibt. Ein Grund ist, dass Frauen* oft nicht die gefährlichen Reisen auf sich nehmen, die notwendig sind, um in anderen Ländern einen Asylantrag zu stellen. Frauen* und Kinder sind aufgrund der verschiedenen Risiken und Arten von Gewalt, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sie sich als weiblich identifizieren und als weiblich gelesen werden - was in dieser Infoserie erläutert wird - manchmal größeren Risiken ausgesetzt. Frauen* sind daher sowohl weniger bereit, diese Risiken einzugehen, als auch weniger geneigt, sich als erste auf den Weg zu machen, um Länder zu erreichen, die als "sicher" bezeichnet werden. Im Falle von Menschen auf der Flucht, die nach Europa migrieren, werden Frauen* und Kinder oft in Geflüchtetenlager in Nachbarländern zurückgelassen, während Männer die gefährlichere und riskantere Reise sowohl über Landes- als auch Wassergrenzen antreten. Durch die Möglichkeit eines Familienzusammenführungsverfahrens können Familien zwar auf sicherere Weise nachziehen, wenn ein Mann (oder jemand, der die Reise zuerst unternimmt) Asyl erhält. Viele Geflüchtete jedoch sind sich dieses Rechts nicht bewusst. Dennoch ist jede:r dritte Asylbewerber:in in Europa eine Frau*, und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass viele von ihnen diese gefährliche Reise antreten, ob mit ihren Familien oder allein.

Einige Daten deuten darauf hin, dass die Mehrheit der in Geflüchtetenlagern lebenden Menschen Frauen* und Kinder sind, zudem weisen wissenschaftliche Untersuchungen auf, dass mehr Frauen und Kinder bei maritimen Katastrophen sterben, wie z. B. durch Ertrinken im Mittelmeer. Selten jedoch sind Daten über Menschen auf der Flucht nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Das substantielle "Migration Data Portal" schreibt: "Migrantinnen, die Risiken, denen sie während ihrer Reise ausgesetzt sind, und die Bedingungen ihres Todes bleiben in den verfügbaren Daten weitgehend unsichtbar." Von den Vorfällen, die sie im Rahmen ihres "Missing Migrants Project" analysiert haben, enthalten nur 31 % Informationen über das Geschlecht der Vermissten oder Toten. Dies kommt zu den zahlreichen Problemen hinzu, die alle Statistiken über irreguläre Personenbewegungen aufweisen. Vor allem Menschen ohne Ausweispapiere werden häufig aus den offiziellen Statistiken und Zählungen von Menschen auf der Flucht ausgeschlossen, so dass die Schlussfolgerungen aus diesen Statistiken unvollständig und letztlich verzerrt sind.

Der Mythos, dass es sich bei den Menschen auf der Flucht nur um Männer handelt, basiert auf einer eurozentrischen und sexistischen Sichtweise; er ignoriert die Tatsache, dass Frauen* in gleicher Weise wie Männer Asyl in Europa beantragen wollen, aber daran gehindert werden. Ferner geraten so die Erfahrungen von Frauen* auf der Flucht, die diese Reisen mit all ihren Gefahren unternehmen, in Vergessenheit. Die Tatsache, dass diese Gefahren verursacht werden durch europäische Grenzregime, europäische Kriege und repressive Regierungen, die wiederum durch europäische Wirtschaftsinteressen ermöglicht werden, macht diese vorsätzliche Ignoranz nur noch schlimmer.


Yusra und Sara Mardini sind beide syrische Geflüchtete, die im Alter von drei Jahren mit dem Schwimmen begonnen haben und folglich beide starke Schwimmerinnen sind. Die beiden Schwestern schwammen mehr als drei Stunden in der Ägäis, nachdem ihr Boot (auf welchem viele Geflüchteten/people on the move waren) eine Panne hatte. Sie schwammen das Boot an die Küste von Lesbos und retteten mit ihrer Aktion allen Menschen an Bord das Leben. Sara Mardini ist heute Aktivistin und Rettungsschwimmerin, Yusra ist Profischwimmerin und hat kürzlich an den Olympischen Spielen 2021 in Tokio teilgenommen, wovon sie nach eigenen Angaben schon immer geträumt hat. | @ dpa, auf bordermonitoring.eu



Herausforderungen für Frauen* auf der Flucht

Frauen* auf der Flucht sind auf ihrem Weg mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Das fängt bei der Situation an, die zu ihrer Vertreibung führt, und hört bei der Diskriminierung in den Aufnahmeländern nicht auf. Aufgrund des Mangels an Daten über die gelebten Erfahrungen von Frauen* auf der Flucht bleibt das meiste davon unbemerkt und wird nur in den individuellen Geschichten dieser Frauen* und Mädchen deutlich. Nichtsdestotrotz gibt es systemische Herausforderungen, denen sich Frauen* auf der Flucht gegenüberstehen, die in einigen Datensätzen untersucht und dokumentiert wurden.

Wie bereits erwähnt, ist die Hälfte der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, weiblich. Bei Naturkatastrophen oder gewaltsamen Konflikten ist der Lebensunterhalt von Frauen* unverhältnismäßig stark betroffen, da sie häufig in weniger regulierten und weniger stabilen "informellen" Sektoren arbeiten. Hinzu kommt, dass Mädchen in der Gesellschaft oft gezwungen sind (und von ihnen erwartet wird), bei Konflikten zuerst ihre Bildung aufzugeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mädchen nicht zur Schule zu gehen, ist in Konfliktgebieten 2,5-mal höher ist als in konfliktfreien Gebieten. In Krisensituationen sind Frauen* stärker von Gewalt und Ausbeutung bedroht, wie Oxfam in ihrem Artikel “Women's rights are early casualties of war" zeigt. Hinzu kommen die allgemeine Diskriminierung und fehlende Gleichberechtigung, der Frauen* überall ausgesetzt sind, insbesondere in den Ländern, aus denen viele von ihnen fliehen. All dies führt dazu, dass die Zahl der Frauen*, die - freiwillig oder gezwungenermaßen - selbstständig migrieren, steigt.

Die Reisen, die Frauen* unternehmen, sind zudem mit erheblichen Risiken verbunden. Ein großer Teil davon wird unter dem Begriff sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV-„Sexual and Gender Based Violence“) zusammengefasst, den das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen als "schädliche Handlungen, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts richten" definiert. „Sie hat ihre Wurzeln in der Ungleichheit der Geschlechter, dem Missbrauch von Macht und schädlichen Normen [und] kann viele Formen annehmen, wie Gewalt in der Partnerschaft, sexuelle Gewalt, Kinderheirat, weibliche Genitalverstümmelung und so genannte 'Ehrenverbrechen'". Die häufigste Form der oben genannten schädlichen Handlungen ist sexuelle Gewalt, die Berichten zufolge mindestens eine von fünf Frauen* auf der Flucht erlebt hat. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch weitaus höher liegen, was auf die fehlende Berichterstattung, die Zahl der Frauen* ohne anerkannte Papiere (die in Statistiken oft nicht erfasst werden) und die Stigmatisierung bei der Erörterung dieses Themas zurückzuführen ist. Da Konflikte Menschen und ihre Familien vertreiben, steigt in einigen Ländern die Zahl der Mädchen, die in Kinderehen landen, aufgrund sozialer Normen, die dies als ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität ansehen. In neun der zehn Länder mit der höchsten Rate an Kinderehen gibt es anhaltende gewaltsame Konflikte. Frauen* sind auch viel stärker von Menschenhandel betroffen: Statistiken zeigen, dass 71 % der Opfer von Menschenhandel weiblich sind. All dies kommt zu dem höheren Maß an Gewalt hinzu, dem Frauen* im Allgemeinen ausgesetzt sind und das aufgrund der frauenfeindlichen, misogynen und sexistischen Rhetorik, die von Politiker:innen und Medien auf der ganzen Welt mobilisiert wird, derzeit zunimmt.

Frauen* sind besonders gefährdet, wenn sie unterwegs sind oder in Geflüchtetenlagern leben. In diesen Situationen sind Frauen* aufgrund fehlender oder unzureichender Unterkünfte, schlecht beleuchteter Badezimmer und des "allgemeinen Chaos" weniger geschützt. Dies führt auch dazu, dass Gewalt gegen Frauen* (VAW-Violence Against Women*) unbemerkt und ungestraft bleibt, gepaart mit sozialen Normen, die Frauen* oft daran hindern, Hilfe zu suchen und sich zu äußern. Das Fehlen eines gesetzlichen Rahmens für den Schutz von Frauen* verschärft diese Probleme lediglich. Neben der Gewalt besteht ein weiteres großes Problem für Frauen* auf der Flucht darin, dass sie keinen Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung haben. Bei Frauen* im gebärfähigen Alter ist der fehlende Zugang zur Gesundheitsversorgung eine der Hauptursachen für Tod, Krankheit und Behinderung. Besonders häufig sind vermeidbare Todesfälle bei Müttern, die in gefährdeten Situationen viel wahrscheinlicher sind; 60 % der vermeidbaren Todesfälle bei Müttern ereignen sich in humanitären Situationen. Frauen*, die unterwegs sind, sind oft schwanger oder können während ihrer Reise schwanger werden, was sie einem deutlich höheren Risiko aussetzt. Der Mangel an sexueller und reproduktiver Gesundheitsfürsorge ist ein großes Problem für Frauen* auf der Flucht und führt oft zu Tod, Krankheit und weiterer Gefährdung. Noch schlimmer sind die gesundheitlichen Probleme für Transgender-Personen, die auf den Zugang zu medizinischer Hilfe angewiesen sind.

Die oben erwähnten Herausforderungen sind diejenigen, die sich leicht quantifizieren lassen und daher besser sichtbar sind. Es gibt viele Geschichten von Frauen*, die in der Kälte schlafen, weil sie sich in Unterkünften nicht sicher fühlen, von Frauen*, die nicht über sexuelle Gewalt, Übergriffe und Missbrauch sprechen können, weil sie Angst haben, von Verwandten bedroht zu werden, von Frauen*, die niemandem vertrauen können, weil sie Angst haben, ihres Geldes beraubt zu werden; die Liste geht weiter und weiter. Und doch bleiben diese Erfahrungen oft unbemerkt und werden nicht gemeldet. Es muss noch viel mehr über die Notlage von Frauen auf der Flucht geforscht werden, aber aus dem Wenigen, das wir wissen, geht klar hervor, dass sie unter zusätzlichen und anderen Herausforderungen leiden, die andere Menschen auf der Flucht vielleicht nicht haben.


Aktivistin, Dichterin und Women* on the Move, Parwana Amiri | @ Refugee Media Team, auf Spiegel.de



Die vergessenen Beiträge von Frauen* auf der Flucht

Es ist jedoch wichtig, nicht nur diese Seite der Erfahrung von Frauen*auf der Flucht zu sehen. Frauen* sind nicht nur passive Elemente von Migrationsbewegungen, die sich über den Schutz definieren, den sie brauchen. Vielmehr sind sie wesentliche Bestandteile der Migrationsbewegungen und prägen die Erfahrungen aller Menschen auf der Flucht - auch wenn ihre Beiträge weitgehend ignoriert werden. Wie UN Women hervorhebt: "Frauen sind oft die Ersten, die auf eine Krise reagieren, und ob auf dem Weg oder in den Lagern, in den Heimatländern oder den Zielländern, sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Versorgung, dem Erhalt und dem Wiederaufbau ihrer Gemeinschaften."

Vor allem in den europäischen Geflüchtetenlagern haben Frauen* begonnen, Aufmerksamkeit für die inspirierende Arbeit zu erlangen, die sie leisten, um ihren Gemeinschaften zu helfen. In diesem Artikel aus den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie wird beispielsweise beschrieben, wie Frauen* im ehemaligen Lager Moria in Griechenland sich selbst organisierten, um Sanitätsartikel für etwas Grundhygiene im Lager herzustellen. Außerdem starteten sie die Videokampagne "#SafeHands", um das Bewusstsein für Handhygiene zu schärfen. Dies sind nur anekdotische Geschichten, aber sie sind eher die Regel als die Ausnahme. So erklärte eine Asylantragsstellende aus Afghanistan: "Wenn ich Geflüchteten wie mir nicht helfe, wer dann? ... [W]ährend die Regierungen sich um ihre eigenen Bürger:innen kümmern, gibt es niemanden, der sich um uns kümmert."

Dies gilt auch für die humanitäre Hilfe, bei der der Beitrag von Frauen* weitgehend ignoriert wird. Von allen humanitären Projekten der Vereinten Nationen waren 2014 nur 4 Prozent auf Frauen* ausgerichtet, und von 2012 bis 2013 ging weniger als 1 Prozent der Mittel für fragile Staaten an Frauen*-Projekte. Und dies trotz zahlreicher Studien, welche zeigen, dass Frauen* humanitäre Maßnahmen effizienter und für die Gemeinschaften nützlicher machen können. Anstatt dieses Potenzial zu nutzen, wird die Rolle von Frauen* als Akteurinnen des Wandels, sowohl lang- als auch kurzfristig, ignoriert. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Zahl der Migrantinnen* ("Migrantin" wird hier verwendet, um Frauen* zu bezeichnen, die arbeiten, anstatt den weit gefassten und allumfassenden Begriff "Menschen auf der Flucht" zu verwenden), die in den Zielländern eine Arbeit aufnehmen - entweder auf dem formellen oder informellen Arbeitsmarkt oder beides - und Geld an ihre Familien zurückschicken. Dieses Geld übersteigt bei weitem den Betrag, der weltweit an humanitärer Hilfe gezahlt wird. Die Nichtregierungsorganisation "Women for Women" schätzt, dass Frauen* auf der Flucht bei angemessener Unterstützung das Potenzial haben, ein zusätzliches globales BIP von 1,4 Billionen Dollar zu erwirtschaften. Durch wirtschaftliches Empowerment können Frauen* für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen und selbständig werden, was für ihre Emanzipation von unterdrückerischen sozialen Strukturen entscheidend ist.

So gesehen kann Migration zu Empowerment und Emanzipation von Frauen* führen und ihnen helfen, ein selbstbestimmteres und freieres Leben zu führen. So wie die Beweggründe für das Verlassen der Herkunftsländer komplizierter als “freiwillig” und “unfreiwillig” sind, fliehen Frauen* nicht nur als passive Akteurinnen, die durch äußere Umstände gezwungen werden. Sie entscheiden sich aktiv und aus eigenem Antrieb dafür eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien zu suchen. Dennoch stehen Frauen* auf der Flucht in Zielländern vor neuen Herausforderungen, da sie dort Mehrfachdiskriminierungen - sowohl als Frauen* als auch als migrantisch gelesene Personen - erfahren. Sie leiden unter unterschiedlichen patriarchalischen Strukturen und sind mit neuen Formen des Missbrauchs, einschließlich der Ausbeutung von Arbeitskräften, konfrontiert.

Darüber hinaus ist der Migrationsprozess für Frauen extrem repressiv und beinhaltet unzählige Situationen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen. In diesem Sinne ist Migration oft eine diskriminierende und entmachtende Erfahrung für Frauen* auf der Flucht, da sie den Bedingungen, denen Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind, am stärksten ausgesetzt und von ihnen am meisten betroffen sind. Frauen* werden oft ignoriert und vergessen, sowohl was ihren Beitrag als auch ihre Verletzlichkeit betrifft. Dies ist nicht nur eine Frage des Bewusstseins, sondern hat auch Auswirkungen auf die reale Welt: Frauen* leiden und sterben aufgrund ihrer Gefährdung, und die humanitäre Hilfe schafft es nicht, Frauen* zu stärken oder ihnen einfach zu helfen.

Das Problem liegt also tiefer in der Art und Weise, wie globale Angelegenheiten und Politik verstanden werden: dass Frauen* und feministische Themen in der Außen- und internationalen Politik ignoriert werden. Darüber hinaus gibt es ein grundlegendes Missverständnis darüber, was Sicherheit bedeutet, das von patriarchalischen Entitäten angetrieben und reproduziert wird.

Es gibt verschiedene Ansätze, um Frauen* auf der Flucht sichtbarer zu machen und die Migrationspolitik geschlechtersensibel zu gestalten. Ein Weg, um sicherzustellen, dass die Geschlechterfrage bei der gesamten humanitären Hilfe, Unterstützung und Entscheidungsfindung berücksichtigt wird, ist das Gender Mainstreaming. Dies bedeutet, dass die Gleichstellung der Geschlechter in alle politischen Maßnahmen und Entscheidungen einbezogen wird und nicht nur als "Zusatz" behandelt wird, nachdem die Maßnahmen und Entscheidungen bereits getroffen wurden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Geschlechterfrage auch als solche behandelt wird.

Ein kürzlich vorgelegter Vorschlag, das Marrakesch-Manifest für die Rechte der Frauen, zeigt auf, wie die Gleichstellung der Geschlechter durchgängig berücksichtigt werden kann. Darin werden einige Schlüsselbereiche genannt, in denen ein Wandel stattfinden muss:

  • Frauen* auf der Flucht müssen auf allen Ebenen sinnvoll in die Politikgestaltung einbezogen werden, was beispielsweise durch die Finanzierung und Unterstützung von Führungsprogrammen erreicht werden kann.
  • Alle Arten von Diskriminierung müssen beseitigt werden, und Frauen*rechte müssen in allen Bereichen, einschließlich öffentlicher Dienste, Gesundheitsfürsorge, Arbeitsrechte und Justiz, berücksichtigt werden.
  • Gewalt gegen Frauen* muss beendet werden, insbesondere geschlechtsspezifische Gewalt und Ausbeutung von Frauen* auf der Flucht. Auch in Bezug auf den Zugang zur Justiz und die Arbeitsrechte von Wanderarbeitnehmerinnen müssen Fortschritte erzielt werden.
  • Echte Sicherheit für Frauen* auf der Flucht kann nur durch die Legalisierung von Wanderungs- und Migrationsbewegungen erreicht werden. Frauen* bewegen sich nur dann in Sicherheit, wenn die Kriminalisierung von people on the move beendet wird und die Menschenrechtsverletzungen und Gewalt, die während der Reise von migrierenden Menschen auftreten, beseitigt werden. Die Grenzpolitik muss sich der Menschenrechte bewusst werden und den Bedürfnissen und Rechten von Frauen* besondere Aufmerksamkeit schenken.
  • Soweit Entwicklungshilfe zur Verbesserung der Bedingungen in den Herkunftsländern eingesetzt wird, muss diese gerecht sein und auch auf die Verbesserung der Situation von Frauen* ausgerichtet sein.


Weitere Lektüre

UN Women - Closing the Gender Gap in Humanitarian Action

Al Jazeera - Life as a female refugee: ‘You don’t know who to trust’

UNFPA - Five reasons migration is a feminist issue

Women for Women - 5 Facts about what refugee women face

Atlantic Council - Refugee Women: The most vulnerable and yet the most resilient in this pandemic

UNFPA - Gender-based violence in humanitarian settings

LSE - “Protecting Women and Girls in Refugee Camps - States’ obligations under international law”

UN Women Fund for Gender Equality - “‘Leaving no one behind’ in action”



N.B.: In diesem Artikel werden durchgehend die Begriffe "Frauen" oder "Frau" verwendet. Wenn wir diese Begriffe verwenden, beziehen wir uns auf alle, die sich als weiblich identifizieren, unabhängig davon, welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde oder heute zugeschrieben wird. Diese Begriffe werden mit einem * neben dem Wort gekennzeichnet, wie z. B.: Frauen* und Frau*.

N.B.: Der Ausdruck "Menschen auf der Flucht" wird durchgehend verwendet. Die Begriffe "Migrant:in", "Geflüchtete:r" und "Asylbewerber:in" werden ebenfalls verwendet, wenn sie dem Kontext angemessen sind und auch, wenn sie in der zitierten Quelle entsprechend verwendet werden.


Wenn rechtsgerichtete Politiker:innen über die Situation von Menschen auf der Flucht in Europa sprechen, beschwören sie oft das Bild des extremistischen, gewalttätigen, jungen männlichen "Migranten" herauf, um Angst zu schüren und die Stimmung gegen Migrant:innen anzuheizen. Leider wurde diese Rhetorik und Propaganda auch von anderen Akteur:innen des öffentlichen Diskurses übernommen und sich zu eigen gemacht, beispielsweise von Teilen der Medien, von Politiker:innen oder anderen meinungsbildend Agierenden. Dies hat zu dem weit verbreiteten Mythos geführt, dass Migration ein ausschließlich männliches Phänomen ist und dass Frauen* auf der Flucht so gut wie nicht existieren.

Obwohl Statistiken zeigen, dass dieser Mythos falsch ist, beeinflusst er dennoch direkt politische Entscheidungsträger:innen bei ihren Beschlüssen, welche versuchen, mit Menschen auf der Flucht in Europa umzugehen. In dieser Info-Reihe werden wir daher dem weit verbreiteten Irrglauben entgegenarbeiten, dass die meisten Menschen auf der Flucht erwachsene Männer seien, sowie erörtern, wie Frauen* in der Migrationspolitik systematisch übersehen werden.



Frauen* im Geflüchtetenlager Akçakale, Türkei. | @ Shutterstock, auf Oxford News Blog


Die Daten

Es gibt keine Daten, die darauf hindeuten, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen der Zahl der Frauen* und der Zahl der Männer, die sich dazu entscheiden oder gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, gäbe. Alle verfügbaren geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselten Daten zum Bestand an Migrant:innen zeigen im Grunde eine 50:50-Aufteilung zwischen Männern und Frauen. Dies gilt für die Gesamtheit der internationalen Migrant:innen, die Binnenvertriebenen (S. 28), die Staatenlosen (S. 60) und die Gesamtpopulation der grenzüberschreitend Vertriebenen (S. 16). Eine Aufschlüsselung nach Altersgruppen ergibt eine ähnliche Verteilung und zeigt, dass 42 % aller gewaltsam vertriebenen Personen Kinder sind. Es zeigt sich auch, dass etwa 28 % erwachsene Männer und 72 % Frauen* oder Kinder sind. Daraus geht hervor, dass von den weltweiten Beständen an Menschen auf der Flucht die Hälfte weiblich ist.

Diese Zahlen ändern sich, wenn ein Blick auf die Erst-Asylantragsstellenden in Europa geworfen wird. Hier weisen die Daten ein deutliches Missverhältnis auf: 63,8 % sind männlich und 36,1 % weiblich. Diese Differenz rechtfertigt zwar noch nicht die Rhetorik rechter Politiker:innen, wirft jedoch – in Anbetracht der sonst gleichmäßigen Verteilung der weltweiten Bestände an Menschen auf der Flucht - die Frage auf, warum es sie gibt. Ein Grund ist, dass Frauen* oft nicht die gefährlichen Reisen auf sich nehmen, die notwendig sind, um in anderen Ländern einen Asylantrag zu stellen. Frauen* und Kinder sind aufgrund der verschiedenen Risiken und Arten von Gewalt, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sie sich als weiblich identifizieren und als weiblich gelesen werden - was in dieser Infoserie erläutert wird - manchmal größeren Risiken ausgesetzt. Frauen* sind daher sowohl weniger bereit, diese Risiken einzugehen, als auch weniger geneigt, sich als erste auf den Weg zu machen, um Länder zu erreichen, die als "sicher" bezeichnet werden. Im Falle von Menschen auf der Flucht, die nach Europa migrieren, werden Frauen* und Kinder oft in Geflüchtetenlager in Nachbarländern zurückgelassen, während Männer die gefährlichere und riskantere Reise sowohl über Landes- als auch Wassergrenzen antreten. Durch die Möglichkeit eines Familienzusammenführungsverfahrens können Familien zwar auf sicherere Weise nachziehen, wenn ein Mann (oder jemand, der die Reise zuerst unternimmt) Asyl erhält. Viele Geflüchtete jedoch sind sich dieses Rechts nicht bewusst. Dennoch ist jede:r dritte Asylbewerber:in in Europa eine Frau*, und es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass viele von ihnen diese gefährliche Reise antreten, ob mit ihren Familien oder allein.

Einige Daten deuten darauf hin, dass die Mehrheit der in Geflüchtetenlagern lebenden Menschen Frauen* und Kinder sind, zudem weisen wissenschaftliche Untersuchungen auf, dass mehr Frauen und Kinder bei maritimen Katastrophen sterben, wie z. B. durch Ertrinken im Mittelmeer. Selten jedoch sind Daten über Menschen auf der Flucht nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Das substantielle "Migration Data Portal" schreibt: "Migrantinnen, die Risiken, denen sie während ihrer Reise ausgesetzt sind, und die Bedingungen ihres Todes bleiben in den verfügbaren Daten weitgehend unsichtbar." Von den Vorfällen, die sie im Rahmen ihres "Missing Migrants Project" analysiert haben, enthalten nur 31 % Informationen über das Geschlecht der Vermissten oder Toten. Dies kommt zu den zahlreichen Problemen hinzu, die alle Statistiken über irreguläre Personenbewegungen aufweisen. Vor allem Menschen ohne Ausweispapiere werden häufig aus den offiziellen Statistiken und Zählungen von Menschen auf der Flucht ausgeschlossen, so dass die Schlussfolgerungen aus diesen Statistiken unvollständig und letztlich verzerrt sind.

Der Mythos, dass es sich bei den Menschen auf der Flucht nur um Männer handelt, basiert auf einer eurozentrischen und sexistischen Sichtweise; er ignoriert die Tatsache, dass Frauen* in gleicher Weise wie Männer Asyl in Europa beantragen wollen, aber daran gehindert werden. Ferner geraten so die Erfahrungen von Frauen* auf der Flucht, die diese Reisen mit all ihren Gefahren unternehmen, in Vergessenheit. Die Tatsache, dass diese Gefahren verursacht werden durch europäische Grenzregime, europäische Kriege und repressive Regierungen, die wiederum durch europäische Wirtschaftsinteressen ermöglicht werden, macht diese vorsätzliche Ignoranz nur noch schlimmer.


Yusra und Sara Mardini sind beide syrische Geflüchtete, die im Alter von drei Jahren mit dem Schwimmen begonnen haben und folglich beide starke Schwimmerinnen sind. Die beiden Schwestern schwammen mehr als drei Stunden in der Ägäis, nachdem ihr Boot (auf welchem viele Geflüchteten/people on the move waren) eine Panne hatte. Sie schwammen das Boot an die Küste von Lesbos und retteten mit ihrer Aktion allen Menschen an Bord das Leben. Sara Mardini ist heute Aktivistin und Rettungsschwimmerin, Yusra ist Profischwimmerin und hat kürzlich an den Olympischen Spielen 2021 in Tokio teilgenommen, wovon sie nach eigenen Angaben schon immer geträumt hat. | @ dpa, auf bordermonitoring.eu



Herausforderungen für Frauen* auf der Flucht

Frauen* auf der Flucht sind auf ihrem Weg mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Das fängt bei der Situation an, die zu ihrer Vertreibung führt, und hört bei der Diskriminierung in den Aufnahmeländern nicht auf. Aufgrund des Mangels an Daten über die gelebten Erfahrungen von Frauen* auf der Flucht bleibt das meiste davon unbemerkt und wird nur in den individuellen Geschichten dieser Frauen* und Mädchen deutlich. Nichtsdestotrotz gibt es systemische Herausforderungen, denen sich Frauen* auf der Flucht gegenüberstehen, die in einigen Datensätzen untersucht und dokumentiert wurden.

Wie bereits erwähnt, ist die Hälfte der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, weiblich. Bei Naturkatastrophen oder gewaltsamen Konflikten ist der Lebensunterhalt von Frauen* unverhältnismäßig stark betroffen, da sie häufig in weniger regulierten und weniger stabilen "informellen" Sektoren arbeiten. Hinzu kommt, dass Mädchen in der Gesellschaft oft gezwungen sind (und von ihnen erwartet wird), bei Konflikten zuerst ihre Bildung aufzugeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Mädchen nicht zur Schule zu gehen, ist in Konfliktgebieten 2,5-mal höher ist als in konfliktfreien Gebieten. In Krisensituationen sind Frauen* stärker von Gewalt und Ausbeutung bedroht, wie Oxfam in ihrem Artikel “Women's rights are early casualties of war" zeigt. Hinzu kommen die allgemeine Diskriminierung und fehlende Gleichberechtigung, der Frauen* überall ausgesetzt sind, insbesondere in den Ländern, aus denen viele von ihnen fliehen. All dies führt dazu, dass die Zahl der Frauen*, die - freiwillig oder gezwungenermaßen - selbstständig migrieren, steigt.

Die Reisen, die Frauen* unternehmen, sind zudem mit erheblichen Risiken verbunden. Ein großer Teil davon wird unter dem Begriff sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV-„Sexual and Gender Based Violence“) zusammengefasst, den das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen als "schädliche Handlungen, die sich gegen eine Person aufgrund ihres Geschlechts richten" definiert. „Sie hat ihre Wurzeln in der Ungleichheit der Geschlechter, dem Missbrauch von Macht und schädlichen Normen [und] kann viele Formen annehmen, wie Gewalt in der Partnerschaft, sexuelle Gewalt, Kinderheirat, weibliche Genitalverstümmelung und so genannte 'Ehrenverbrechen'". Die häufigste Form der oben genannten schädlichen Handlungen ist sexuelle Gewalt, die Berichten zufolge mindestens eine von fünf Frauen* auf der Flucht erlebt hat. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch weitaus höher liegen, was auf die fehlende Berichterstattung, die Zahl der Frauen* ohne anerkannte Papiere (die in Statistiken oft nicht erfasst werden) und die Stigmatisierung bei der Erörterung dieses Themas zurückzuführen ist. Da Konflikte Menschen und ihre Familien vertreiben, steigt in einigen Ländern die Zahl der Mädchen, die in Kinderehen landen, aufgrund sozialer Normen, die dies als ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität ansehen. In neun der zehn Länder mit der höchsten Rate an Kinderehen gibt es anhaltende gewaltsame Konflikte. Frauen* sind auch viel stärker von Menschenhandel betroffen: Statistiken zeigen, dass 71 % der Opfer von Menschenhandel weiblich sind. All dies kommt zu dem höheren Maß an Gewalt hinzu, dem Frauen* im Allgemeinen ausgesetzt sind und das aufgrund der frauenfeindlichen, misogynen und sexistischen Rhetorik, die von Politiker:innen und Medien auf der ganzen Welt mobilisiert wird, derzeit zunimmt.

Frauen* sind besonders gefährdet, wenn sie unterwegs sind oder in Geflüchtetenlagern leben. In diesen Situationen sind Frauen* aufgrund fehlender oder unzureichender Unterkünfte, schlecht beleuchteter Badezimmer und des "allgemeinen Chaos" weniger geschützt. Dies führt auch dazu, dass Gewalt gegen Frauen* (VAW-Violence Against Women*) unbemerkt und ungestraft bleibt, gepaart mit sozialen Normen, die Frauen* oft daran hindern, Hilfe zu suchen und sich zu äußern. Das Fehlen eines gesetzlichen Rahmens für den Schutz von Frauen* verschärft diese Probleme lediglich. Neben der Gewalt besteht ein weiteres großes Problem für Frauen* auf der Flucht darin, dass sie keinen Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung haben. Bei Frauen* im gebärfähigen Alter ist der fehlende Zugang zur Gesundheitsversorgung eine der Hauptursachen für Tod, Krankheit und Behinderung. Besonders häufig sind vermeidbare Todesfälle bei Müttern, die in gefährdeten Situationen viel wahrscheinlicher sind; 60 % der vermeidbaren Todesfälle bei Müttern ereignen sich in humanitären Situationen. Frauen*, die unterwegs sind, sind oft schwanger oder können während ihrer Reise schwanger werden, was sie einem deutlich höheren Risiko aussetzt. Der Mangel an sexueller und reproduktiver Gesundheitsfürsorge ist ein großes Problem für Frauen* auf der Flucht und führt oft zu Tod, Krankheit und weiterer Gefährdung. Noch schlimmer sind die gesundheitlichen Probleme für Transgender-Personen, die auf den Zugang zu medizinischer Hilfe angewiesen sind.

Die oben erwähnten Herausforderungen sind diejenigen, die sich leicht quantifizieren lassen und daher besser sichtbar sind. Es gibt viele Geschichten von Frauen*, die in der Kälte schlafen, weil sie sich in Unterkünften nicht sicher fühlen, von Frauen*, die nicht über sexuelle Gewalt, Übergriffe und Missbrauch sprechen können, weil sie Angst haben, von Verwandten bedroht zu werden, von Frauen*, die niemandem vertrauen können, weil sie Angst haben, ihres Geldes beraubt zu werden; die Liste geht weiter und weiter. Und doch bleiben diese Erfahrungen oft unbemerkt und werden nicht gemeldet. Es muss noch viel mehr über die Notlage von Frauen auf der Flucht geforscht werden, aber aus dem Wenigen, das wir wissen, geht klar hervor, dass sie unter zusätzlichen und anderen Herausforderungen leiden, die andere Menschen auf der Flucht vielleicht nicht haben.


Aktivistin, Dichterin und Women* on the Move, Parwana Amiri | @ Refugee Media Team, auf Spiegel.de



Die vergessenen Beiträge von Frauen* auf der Flucht

Es ist jedoch wichtig, nicht nur diese Seite der Erfahrung von Frauen*auf der Flucht zu sehen. Frauen* sind nicht nur passive Elemente von Migrationsbewegungen, die sich über den Schutz definieren, den sie brauchen. Vielmehr sind sie wesentliche Bestandteile der Migrationsbewegungen und prägen die Erfahrungen aller Menschen auf der Flucht - auch wenn ihre Beiträge weitgehend ignoriert werden. Wie UN Women hervorhebt: "Frauen sind oft die Ersten, die auf eine Krise reagieren, und ob auf dem Weg oder in den Lagern, in den Heimatländern oder den Zielländern, sie spielen eine entscheidende Rolle bei der Versorgung, dem Erhalt und dem Wiederaufbau ihrer Gemeinschaften."

Vor allem in den europäischen Geflüchtetenlagern haben Frauen* begonnen, Aufmerksamkeit für die inspirierende Arbeit zu erlangen, die sie leisten, um ihren Gemeinschaften zu helfen. In diesem Artikel aus den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie wird beispielsweise beschrieben, wie Frauen* im ehemaligen Lager Moria in Griechenland sich selbst organisierten, um Sanitätsartikel für etwas Grundhygiene im Lager herzustellen. Außerdem starteten sie die Videokampagne "#SafeHands", um das Bewusstsein für Handhygiene zu schärfen. Dies sind nur anekdotische Geschichten, aber sie sind eher die Regel als die Ausnahme. So erklärte eine Asylantragsstellende aus Afghanistan: "Wenn ich Geflüchteten wie mir nicht helfe, wer dann? ... [W]ährend die Regierungen sich um ihre eigenen Bürger:innen kümmern, gibt es niemanden, der sich um uns kümmert."

Dies gilt auch für die humanitäre Hilfe, bei der der Beitrag von Frauen* weitgehend ignoriert wird. Von allen humanitären Projekten der Vereinten Nationen waren 2014 nur 4 Prozent auf Frauen* ausgerichtet, und von 2012 bis 2013 ging weniger als 1 Prozent der Mittel für fragile Staaten an Frauen*-Projekte. Und dies trotz zahlreicher Studien, welche zeigen, dass Frauen* humanitäre Maßnahmen effizienter und für die Gemeinschaften nützlicher machen können. Anstatt dieses Potenzial zu nutzen, wird die Rolle von Frauen* als Akteurinnen des Wandels, sowohl lang- als auch kurzfristig, ignoriert. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Zahl der Migrantinnen* ("Migrantin" wird hier verwendet, um Frauen* zu bezeichnen, die arbeiten, anstatt den weit gefassten und allumfassenden Begriff "Menschen auf der Flucht" zu verwenden), die in den Zielländern eine Arbeit aufnehmen - entweder auf dem formellen oder informellen Arbeitsmarkt oder beides - und Geld an ihre Familien zurückschicken. Dieses Geld übersteigt bei weitem den Betrag, der weltweit an humanitärer Hilfe gezahlt wird. Die Nichtregierungsorganisation "Women for Women" schätzt, dass Frauen* auf der Flucht bei angemessener Unterstützung das Potenzial haben, ein zusätzliches globales BIP von 1,4 Billionen Dollar zu erwirtschaften. Durch wirtschaftliches Empowerment können Frauen* für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen und selbständig werden, was für ihre Emanzipation von unterdrückerischen sozialen Strukturen entscheidend ist.

So gesehen kann Migration zu Empowerment und Emanzipation von Frauen* führen und ihnen helfen, ein selbstbestimmteres und freieres Leben zu führen. So wie die Beweggründe für das Verlassen der Herkunftsländer komplizierter als “freiwillig” und “unfreiwillig” sind, fliehen Frauen* nicht nur als passive Akteurinnen, die durch äußere Umstände gezwungen werden. Sie entscheiden sich aktiv und aus eigenem Antrieb dafür eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien zu suchen. Dennoch stehen Frauen* auf der Flucht in Zielländern vor neuen Herausforderungen, da sie dort Mehrfachdiskriminierungen - sowohl als Frauen* als auch als migrantisch gelesene Personen - erfahren. Sie leiden unter unterschiedlichen patriarchalischen Strukturen und sind mit neuen Formen des Missbrauchs, einschließlich der Ausbeutung von Arbeitskräften, konfrontiert.

Darüber hinaus ist der Migrationsprozess für Frauen extrem repressiv und beinhaltet unzählige Situationen, die ihre Verletzlichkeit ausnutzen. In diesem Sinne ist Migration oft eine diskriminierende und entmachtende Erfahrung für Frauen* auf der Flucht, da sie den Bedingungen, denen Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind, am stärksten ausgesetzt und von ihnen am meisten betroffen sind. Frauen* werden oft ignoriert und vergessen, sowohl was ihren Beitrag als auch ihre Verletzlichkeit betrifft. Dies ist nicht nur eine Frage des Bewusstseins, sondern hat auch Auswirkungen auf die reale Welt: Frauen* leiden und sterben aufgrund ihrer Gefährdung, und die humanitäre Hilfe schafft es nicht, Frauen* zu stärken oder ihnen einfach zu helfen.

Das Problem liegt also tiefer in der Art und Weise, wie globale Angelegenheiten und Politik verstanden werden: dass Frauen* und feministische Themen in der Außen- und internationalen Politik ignoriert werden. Darüber hinaus gibt es ein grundlegendes Missverständnis darüber, was Sicherheit bedeutet, das von patriarchalischen Entitäten angetrieben und reproduziert wird.

Es gibt verschiedene Ansätze, um Frauen* auf der Flucht sichtbarer zu machen und die Migrationspolitik geschlechtersensibel zu gestalten. Ein Weg, um sicherzustellen, dass die Geschlechterfrage bei der gesamten humanitären Hilfe, Unterstützung und Entscheidungsfindung berücksichtigt wird, ist das Gender Mainstreaming. Dies bedeutet, dass die Gleichstellung der Geschlechter in alle politischen Maßnahmen und Entscheidungen einbezogen wird und nicht nur als "Zusatz" behandelt wird, nachdem die Maßnahmen und Entscheidungen bereits getroffen wurden. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Geschlechterfrage auch als solche behandelt wird.

Ein kürzlich vorgelegter Vorschlag, das Marrakesch-Manifest für die Rechte der Frauen, zeigt auf, wie die Gleichstellung der Geschlechter durchgängig berücksichtigt werden kann. Darin werden einige Schlüsselbereiche genannt, in denen ein Wandel stattfinden muss:


Weitere Lektüre

UN Women - Closing the Gender Gap in Humanitarian Action

Al Jazeera - Life as a female refugee: ‘You don’t know who to trust’

UNFPA - Five reasons migration is a feminist issue

Women for Women - 5 Facts about what refugee women face

Atlantic Council - Refugee Women: The most vulnerable and yet the most resilient in this pandemic

UNFPA - Gender-based violence in humanitarian settings

LSE - “Protecting Women and Girls in Refugee Camps - States’ obligations under international law”

UN Women Fund for Gender Equality - “‘Leaving no one behind’ in action”



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